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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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gefunden hatte, als Jonathan die Wohnung betrat.
    »Hallo!«, rief er. »Sofia?«
    »Ich bin hier!« Sie kam aus dem Bad und versuchte so gelassen und normal wie möglich zu erscheinen, aber es gelang ihr noch nicht einmal, ruhig zu atmen.
    »Ist irgendwas passiert?«
    »Nein. Gar nichts.«
    »Du siehst aus, als wärst du im Badezimmer einem Gespenst begegnet!«
    »Nein, nein, es ist nichts. Alles in Ordnung.« Sie zwang sich zu lächeln.
    Jonathan ging zu ihr und gab ihr einen Kuss.
    »Bei deinem Vater ist die Achillessehne gerissen. Er muss operiert werden. Wahrscheinlich schon morgen.«
    Normalerweise hätte sich Sofia bei dieser Nachricht erschrocken, aber es war ihr im Moment egal, die Kammer ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.
    Denn seit sie die ausgestochenen Augen gefühlt hatte, hatte sie eine diffuse Angst vor Jonathan.
     
    »Ich möchte, dass du mir dein Wort gibst, Sofia.«
    Es war Januar, und Jonathan war dabei, seine Koffer zu packen. »Gib mir dein Ehrenwort und schwöre auf die Bibel und beim Leben deiner Eltern, dass du dieses Haus nicht verlässt, solange ich weg bin! Va bene? Fahr nicht mit Riccardo ins Dorf, auch nicht, wenn es nur für die Dauer eines Kaffees auf der Piazza ist, und empfange niemanden! Hörst du, niemanden! Wenn ein Handwerker kommt, geh ins Haus und schließ dich ein! Zeig dich nicht und bleib in deinem Zimmer. Versteck dich! Es ist so ungemein wichtig, Liebste, und nur wenn du dich daran hältst, kann ich wiederkommen! Wahrscheinlich ist es auch das allerletzte Mal, dass ich dich darum bitten muss!«
    Sofia hatte keine Kraft mehr. Sie wehrte und empörte sich nicht, sie fragte nicht nach, sondern schwor beim Leben ihrer Eltern, sich während Jonathans Abwesenheit mit keinem Menschen zu treffen. Mit wem auch? Sie hatte schon lange keine Freunde mehr.
    Vor zehn Tagen hatte er ihr abends am Kamin ganz überraschend mitgeteilt, dass er nach Deutschland fahren müsse. Weil es seiner Cousine schlechter ginge. Sehr viel schlechter.
    »Ich glaube, sie wird sterben«, sagte er, »und ich will in ihren letzten Tagen bei ihr sein.«
    Sofia hatte Verständnis dafür, obwohl ihr die Cousine mysteriös erschien, Jonathan hatte in den letzten Monaten, seit er auf der Beerdigung von Dr. Kerner gewesen war, nur einmal von ihr gesprochen, und es hatte sie auch gewundert, warum er nie mit ihr oder zumindest mit dem Krankenhaus telefoniert hatte.
    »Wie heißt deine Cousine eigentlich?«, fragte sie.
    Jonathan zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde zu lange, bis er »Daniela« sagte, aber Sofia hatte es bemerkt.
    Am zwölften Januar, morgens um sechs, kam der Abschied. Draußen war es stockdunkel. Sofia spürte noch die Bettwärme auf ihrer Haut, als sie in der Kälte stand und ihn umarmte.
    »Wie lange?«, flüsterte sie. »Wie lange denn diesmal?«
    »Nicht lange.« Jonathan küsste ihre Augenlider. »Denk daran, was du versprochen hast, dann wird auch nichts geschehen, und ich bin bald zurück. Und dann wirst du alles verstehen.«
    Ja, dachte sie, fahr, fahr los, wo immer du auch hinwillst. Und ihre nackten kalten Füße in den Badelatschen waren ihr unangenehmer als der Gedanke, dass sie gleich allein sein würde. Komm wieder und erzähl mir, was los ist. Vielleicht konnte es dann ja doch noch einmal einen neuen Anfang geben. Mit einem Mann, der seit fast fünf Jahren nicht mehr mit ihr geschlafen hatte, sondern lieber nachts vor einem Gemälde mit ausgestochenen Augen weinte.
    Jonathan fuhr los. Sie stand da und winkte. Er beobachtete sie im Rückspiegel und war noch nicht aus ihrem Blickfeld verschwunden, da lief sie schon zurück ins Haus. Vielleicht drei oder vier Sekunden zu früh und zu eilig, aber diese blieben ihm schmerzlich in Erinnerung.

DREIUNDDREISSIG
    Am vierzehnten Januar bezog er sein Quartier im Wald. Bei einem Outdoor-Ausrüster hatte er sich spezielle Winterkleidung zugelegt. Jacke, Hose und Stiefel, die auch für eine Tour in der Arktis geeignet gewesen wären, denn er rechnete damit, eventuell tagelang auf seinem Beobachtungsposten liegen zu müssen.
    Seit zehn Tagen waren die Temperaturen in Deutschland nicht mehr über null Grad gestiegen, und der Boden war hartgefroren. Jonathan hatte eine Isomatte dabei und hoffte, sie würde die Kälte abhalten und ihm ermöglichen, sich wenigstens ab und zu hinzusetzen und ein bisschen auszustrecken. Außerdem hatte er in den geräumigen Taschen seiner Jacke heißen Tee in einer Thermoskanne, belegte Brötchen, ein Taschenmesser

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