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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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fast unmerklich vor sich. Und doch, wenn Ernesto die Leistungen seiner Tochter mit denselben strengen, rein quantitativen Maßstäben gemessen hätte, mit denen er den Rest der Welt beurteilte, wenn er eine Graphik angelegt hätte mit den Quartalsabschlussnoten von der Grundschule bis kurz vor Studienabschluss, dann hätte er sofort bemerkt, dass die Kurve abfallend war.
    Ich für meinen Teil bemerkte diese leise und beständige Veränderung an der Deutlichkeit, mit der bei Beginn der schönen Jahreszeit Mariannas Sommersprossen sichtbar wurden. Seit jeher machte ich die kleinen Pigmentflecken auf den Wangen meiner Schwester verantwortlich für ihre wunderbare Kraft: Unterschied sie sich nicht durch sie von uns anderen mittelmäßigen Wesen? Aber in jedem Frühjahr kehrten sie blasser wieder. Seitdem sie die Angewohnheit angenommen hatte, die sommerliche Bräune im Solarium vorwegzunehmen, waren sie kaum noch zu erkennen. Im achten Semester an der Universität, da war sie schon fast Doktorin der Kunstgeschichte – ein Fach, das sie nicht mehr interessierte als alle anderen auch, das aber eine Neigung zur Kreativität bestätigte, die wir in der Familie ihr alle gern zuschrieben –, waren die Sommersprossen ganz verschwunden wie Sterne über einer Stadt im Smog. Und sie machte einfach nicht weiter.
    Die Prüfung war nicht einmal eine der schwierigeren, ein Kurs über Leben und Werk William Blakes. Beim ersten Versuch verpasste sie die Bestnote. Sie machte kurz eine Tragödie daraus, aber ihre Verzweiflung und ihr heftiges Wettern gegen den Assistenten, der sie geprüft hatte und ihr dabei auch nicht eine obskure Interpretation des
Großen roten Drachen
erspart hatte, schien eine Pose zu sein, dazu da, ein schwerwiegenderes grundsätzliches Desinteresse zu verbergen. Als sie es einen Monat später noch einmal probierte, ließ die Dozentin selbst sie durchfallen. Wir saßen fassungslos beim Mittagessen, und während sie sie als inkompetent, als Idiotin und frigide Schreckschraube hinstellte, die dringend mal, na ja, sie wusste schon, was, nötig gehabt hätte, umklammerte Nini unwillig ihr Besteck, ohne diesen Urteilen zu widersprechen.
    Ich war auf Mariannas Seite, wie immer. Als wir allein waren, ließ ich zu, dass sie ihr ganzes parodistisches Talent entfaltete und die Dozentin in den grimmigsten Farben malte, was nun wirklich eines düsteren Blake-Gemäldes würdig gewesen wäre. In den kurzen Zeiträumen, die sie mir für meine Beiträge ließ, versuchte ich sie anzufeuern.
    Das nützte nicht viel. Es gab einen dritten und einen vierten Misserfolg, unter Umständen, die nie ganz geklärt wurden. Beim fünften Mal kam Marianna zur Prüfung ohne Prüfungsheft, setzte sich vor die Professorin und den Assistenten und sah sie stumm an, bis die beiden die Geduld verloren und sie entließen.
    Nach der Prüfung rief sie mich an, ich solle auf jeden Fall nach Hause kommen – ja, es war
unerlässlich
. Im Jahr zuvor hatte ich die letzte Einspruchsfrist gegen den Militärdienst verstreichen lassen und die Missbilligung der gesamten Familie geerntet, damit aber die erste meiner stillschweigenden Fluchten angetreten (gut möglich, dass ich die unmittelbar bevorstehende Katastrophe vorausahnte und Schutz suchte). Ich wohnte schon in der Kaserne, aber im Tausch für einen Gefallen, den ich einem Vorgesetzten tat, konnte ich ihrem Wunsch entsprechen.
    Beim Abendessen verkündete Marianna unter Schluchzen und hysterischem Weinen, dass sie das Studium aufgeben wolle. Wir sahen sie sich winden wie ein Tier in der Falle. Ihr Schmerz klang in mir mit gleicher Intensität wie in ihr wider, aber ich konnte nichts tun, um ihn zu lindern. Nini erwartete, dass ich etwas sagte. Ernesto aß mit kleinen Bissen weiter. Am Ende dessen, was er für eine typisch infantile Äußerung seiner Tochter halten musste, sagte er schließlich: «Morgen kommst du mit ins Krankenhaus. Mit mir.»
    Ich begriff nicht gleich, dabei war die Sache ziemlich einfach. Für einen Arzt wie Ernesto Egitto, der seit jeher leugnete, dass es im menschlichen Organismus etwas anderes geben könne als die Mechanik des Körpers und den diesen lenkenden Willen im Gehirn, konnte die Diagnose nur eine sein: Er hatte Marianna ganze Nachmittage am Schreibtisch sitzen sehen, wenn der Fehler also nicht in der Entschlossenheit lag, musste er notwendigerweise woanders im Organismus liegen. War seine Tochter denn nicht immer Klassenbeste gewesen? Die Eifrigste, die einzig

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