Der menschliche Körper
fehlte, aber es kostete sie zu viel Mühe, sich den Absichten des Ehemanns zu widersetzen. Jetzt aber musste er aufhören. Ein Streit entbrannte. Bei den seltenen Gelegenheiten, da Nini ihm widersprach, hüllte Ernesto sich in eisernes Schweigen. Er verbrachte Stunden um Stunden im Dunkeln, und es konnte vorkommen, dass man ihn im Badezimmer auf der Badematte ausgestreckt fand, auf dem Rücken liegend und die Arme auf der Brust verschränkt, wie ein toter Pharao. Eines Abends kam er nicht nach Hause. Da befahl Nini Marianna, das zu tun, worum sie einige Zeit später mich bitten sollte. «Geh und ruf ihn an. Bitte ihn um Entschuldigung. Sag ihm, er soll nach Hause kommen.»
«Ich ihn um Entschuldigung bitten?»
«Ja, du.»
«Und warum?»
«Er ist nun mal so.»
Nini sagte nichts weiter. In der Familie Egitto musste man ohne weitere Erklärungen begreifen, was notwendig war. Und Marianna ließ sich nicht lang bitten. Als ob sie zum ersten Mal die bizarre und vorhersehbare Entwicklung dessen betrachtete, was sie selbst ausgelöst hatte, aber wie hinter einer Panzerglasscheibe, ging sie entschlossen zum Telefon, wählte Ernestos Nummer und sagte mit eintöniger Stimme: «Ich bitte dich um Entschuldigung. Komm nach Hause.»
Die Universität war unterdessen ein überwundenes Problem, das niemand je ans Licht zu bringen wagte, ebenso wenig wie die unsinnige Parenthese des Check-up: für alle Zeit in Schweigen gebannt. Marianna verbarrikadierte sich für den Rest des Semesters in ihrem Zimmer. Das war eine Art Quarantäne. Wenn ich sie sah, schien sie mir so glücklich und unbeschwert wie schon lange nicht mehr.
Im Sommer brachen wir zu einer Reise auf, sie und ich zusammen mit einigen Freunden. Endziel war die triste Ostseeküste, aber nachdem wir die Grenze zwischen Österreich und der Tschechischen Republik überschritten hatten, sagte Marianna, sie wolle umkehren, und bat darum, zum nächstgelegenen Bahnhof gebracht zu werden, wo sie in den nächstbesten Zug steigen würde. «Ich fühle mich
unwohl
, klar? Diese Orte gefallen mir nicht, sie lösen bei mir
Angst
aus.»
Sie zwang die Gruppe zu einem eintägigen Aufenthalt in einem nichtssagenden Ort in der Nähe von Brünn. Schließlich fuhren die anderen weiter, verärgert über die Verspätung und auch darüber, dass sie nun beengt in einem Auto sitzen mussten. «Ich kann nicht verstehen, warum du nicht
mit ihnen
gefahren bist», protestierte Marianna, aber es war klar, dass sie mir dankbar war und es in gewissem Sinn auch für richtig hielt, dass ich bei ihr blieb. Ich konnte sie überzeugen, die Ferien nicht ganz zu verschenken: Wir waren schon bis dahin gekommen, da konnten wir uns wenigstens Wien anschauen. «Wien wird dir keine Angst machen.»
Von den letzten gemeinsamen Tagen bewahre ich eine wirre und zerrissene Erinnerung, eine Erinnerung, wie man sie von einem Sturm haben kann, der einen im Schlaf überrascht. Marianna war unleidlich, sie schien ständig drauf und dran, in Tränen auszubrechen. Sie aß wenig, fast nichts. Im Restaurant oder in den kleinen Gastwirtschaften, wo wir zu Mittag einkehrten, sah sie das Essen an, als wolle sie es befragen, bis sie es gelangweilt zur Seite schob.
Nach ein paar Tagen verzichtete auch ich aufs Essen. Das Gefühl des Hungers ist das einzige gemeinsame Element in den ansonsten unzusammenhängenden Erlebnissen dieses Aufenthalts. Ich hatte Hunger, während Marianna mit wildem Gesichtsausdruck die gequälten weiblichen Körper auf den Aquarellen von Egon Schiele betrachtete und mir dann befahl, gehen wir raus hier, gehen wir sofort weg hier, ich
hasse
dieses Museum. Ich hatte Hunger, als wir ausgestreckt und wach auf dem Ehebett lagen, das zu teilen uns peinlich war, und eine Reihe von alten Anekdoten Revue passieren ließen, die uns zum Lachen brachten oder uns sehr weh taten. Ich hatte Hunger zum Umfallen, und mir war schlecht während unserer stillen Fahrt auf dem Riesenrad, als sich Marianna mit dem vollkommen leeren Blick, den ich an ihr kannte, mir zuwandte und sagte: «Ich will nie mehr etwas mit ihnen zu tun haben, nie mehr.» Und ich hatte Hunger während der nicht enden wollenden Rückfahrt im Regen, der uns von Anfang bis Ende begleitete. Ohne es zu bemerken, hatten wir die vollkommenste Form der Hygiene praktiziert, die Ernesto uns beigebracht hatte: so lang wie möglich, so lang man es aushält, nichts zu sich nehmen.
Nach unserer Rückkehr wurde Marianna für alle unzugänglich. Die Strategie, die sie
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