Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
Vom Netzwerk:
legen, mit einem Fenster, durch das man Ausschnitte von verschneiten Bergen sah, die am Morgen in Rosa gehüllt waren. Als klar war, dass es nicht mehr lange dauern würde, sagte Nini ziemlich förmlich zu mir: «Geh, ruf sie an. Ich bitte dich.»
    Ich verließ das Gebäude. Ich hatte vergessen, die dicke Jacke anzuziehen, und die Kälte überraschte mich. Ich ging bis zu einer kahlen Birke und legte die Hand an den Stamm. Im Inneren lief der Saft sehr langsam und beharrlich. Ich dachte an den stummen Kampf der Pflanzen, und mit einmal überkam mich Wut. So würde es also ablaufen? Zwei Personen erklären sich für den Rest ihrer Tage den Krieg, schaffen verbrannte Erde rings um sich, und schließlich führt der Tod sie in einem Krankenhauszimmer wieder zusammen, als ob nichts wäre. Was blieb da noch von den Drohungen, den eisernen Mienen, der Unerbittlichkeit, von all dem, worunter
ich
gelitten hatte?
    Marianna antwortete verschlafen. «Es ist Viertel nach sechs, Alessandro. Was willst du?»
    «Papa ist im Krankenhaus.»
    «Sprichst du von Ernesto?»
    «Ja, von Papa.»
    Ich hörte, wie meine Schwester ihren Mann beruhigte – «Schlaf nur, es ist nichts» –, dann ein Rascheln von Leintüchern, ein paar Schritte. Mit lauterer Stimme sprach sie weiter. «Und ich, was soll ich dabei?»
    «Er liegt im Sterben. Es könnte auch schnell gehen. Er hat eine Blutung im …»
    «Es interessiert mich nicht, was er
hat
. Erzähl es mir nicht. Hat er dich gebeten anzurufen?»
    «Er ist sediert. Er spricht nicht.»
    «Er hat genug geredet, solang er wach war.»
    «Marianna, das ist jetzt nicht der Zeitpunkt, um …»
    «Um was? Hab Erbarmen mit mir, Alessandro. In einer Stunde klingelt der Wecker, und ich will nicht
aufgelöst
zur Arbeit kommen.»
    «Meinst du das im Ernst?»
    «Glaubst du etwa, ich bin zu Scherzen aufgelegt? Du weißt genau, wie schwer es mir fällt, wieder einzuschlafen, also glaube ich, ich werde mit
offenen
Augen im Bett liegen, bis es sieben ist.»
    Ich versetzte dem Baumstamm einen Tritt. Ein Stück Rinde löste sich in einer weißen Locke. Die Schicht darunter war glatt und sauber. Ich beugte mich hinunter, um mit der Hand darüberzustreichen. Die Wut verschwand, wie sie gekommen war. Sie überließ ihren Platz einer großen Sehnsucht, etwas wie einer letzten Hoffnung auf Rettung, die man bis zum Moment zuvor vergessen hat und die mit einem Mal vor einen hintritt. Marianna musste zu mir kommen, sofort, das war wesentlich. Wenn sie nicht schnellstens in das erstbeste Taxi stieg, wenn sie nicht rechtzeitig in Ernestos Zimmer trat, um ihn noch atmen zu sehen, wenn ihr nicht die Tränen in die Augen traten, wenn sie dann Nini nicht fest umarmte, wenn sich all dies nicht ereignete, würde es für uns keinerlei Erlösung geben. Wir hatten eine Überdosis Leiden überlebt, und wir konnten noch mehr ertragen, nicht überstehen würden wir aber die Entdeckung, dass es in dieser ganzen enormen Qual keinen Sinn gab.
    «Komm», flehte ich sie an, «unser Vater liegt im Sterben.»
    Marianna blieb ein Weilchen still. Ich spitzte das Ohr, um eine Andeutung des Weinens zu hören, das uns am Ende gerettet hätte, uns alle.
    «Für mich existiert er nicht.»
     
    Acht Jahre zuvor war es ein anderes Telefonat gewesen, ebenso schwerwiegend, aber in nachgiebigerem Tonfall geführt, das den Gipfelpunkt der schwarzen Phase im Leben meiner Schwester markierte und ihren endgültigen Austritt aus dem erstickenden Universum von Nini und Ernesto bekräftigte. Wenn ich heute daran zurückdenke, will mir scheinen, dass die entscheidenden Etappen bei uns in der Familie alle nach dem gleichen Schema zu Ende gingen: am Telefon. Nur kilometerweit und tief im Schutz der Erde verlegte Kabel machten die Auseinandersetzung über Themen erträglich, die, wenn wir uns gegenüberstanden, zu kontrovers schienen, als dass wir sie auch nur erwähnen konnten.
    Nachdem sie in ihren Zeugnissen, die Nini in der obersten Schublade des Küchenschranks in einer Mappe sicher verwahrte, eine beeindruckende Serie von Bestnoten gesammelt hatte, nach Belobigungen, die sie von allen Seiten einstrich, kam Mariannas schulische Laufbahn plötzlich zum Stillstand. Vorzeichen hatte es wohl gegeben. Im Gymnasium verbummelte Marianna Monate und Monate, in deren Verlauf ihr Notendurchschnitt absackte, aber immer hatte sie diese Zeiten der Verirrung durch enorme Anstrengungen wettgemacht und den Status der Klassenbesten wieder erreicht. Die Verschlechterung ging

Weitere Kostenlose Bücher