Der menschliche Körper
Unfehlbare?
Oh, ich muss aber in die Schule!,
hatte sie der Schnauze geantwortet. Irgendetwas in ihrem inneren Mechanismus musste sich verklemmt haben, und er würde herausfinden, was es war.
Darüber, was in den folgenden Monaten in den verschiedenen Abteilungen des Krankenhauses geschah, habe ich nur indirekte Informationen, Zusammenfassungen, die Ernesto mir bei den sporadischen Gelegenheiten, wenn ich meinen Urlaub zu Hause verbrachte, zu meiner Unterrichtung vortrug. Er zählte die Tests auf, denen er Marianna unterzogen hatte, paraphrasierte ihre Krankenakte, die immer umfangreicher wurde, als ob er experimentelle Daten für eine wissenschaftliche Veröffentlichung sammelte oder als ob er lebendiges Anschauungsmaterial für das beibringen wollte, was ich mittlerweile an der Universität in den Lehrbüchern studierte. Er war unparteiisch, kommentierte nicht, er war wie durchsichtig. Selten nickte er einmal oder verzog die Lippen einen Augenblick lang zu einem Lächeln ohne Wärme.
Als Erstes ließ Ernesto eine Röntgenaufnahme von Mariannas Schädel machen. Ein paar Tage lang hörten wir ihn die Vorzüge und Nachteile der Schädelformation meiner Schwester erörtern. Das alles in allem reduzierte Volumen der frontalen Partien war ein Erbfaktor, der zweifellos der Familie Ninis anzulasten war, vielleicht Anzeichen für eine geringe Disposition zu abstraktem Denken. Obwohl ich nicht einverstanden war mit dieser Deutung, die Gedankengut Lombrosos aufnahm und in so grobem Kontrast zur sonstigen wissenschaftlichen Strenge meines Vaters stand, fühlte ich mich nicht imstande, ihm zu widersprechen.
Das EKG zeigte eine leichte Extrasystole, und Ernesto wollte die Untersuchung unter Belastung wiederholen lassen. Anomalien am Skelett und an den Gefäßen ausgeschlossen, vermutete er eine Funktionsstörung im Lymphsystem, und auch diese Fährte wurde bis in die entlegensten Winkel verfolgt, um sich dann als Irrweg zu erweisen. Durch Untersuchung von Blut und Urin konnte er eine Reihe von gewöhnlichen Störungen ausschließen, auch wenn der erhöhte Bilirubin-Spiegel ihn eine schwere Erkrankung der Leber annehmen ließ. Er bezichtigte Marianna, zu viel Alkohol zu trinken, aber das war eine so lächerliche Unterstellung – sie war so gut wie abstinent –, dass nicht einmal Nini, die den Gang der Untersuchungen stets sehr aufmerksam verfolgte, ihr Glauben schenkte. Da begnügte er sich damit, meiner Schwester das Gilbert-Meulengracht-Syndrom zu attestieren, eine andere mögliche Mitursache ihres jüngsten Scheiterns (so nannte er das nun:
das Scheitern
).
Aus Mariannas dunklen Venen wurden weitere Deziliter Blut abgezapft, um Anzeichen seltener Krankheiten oder Autoimmundefizite zu finden. Man musste den Blickwinkel erweitern und auch Lupus, Diabetes mellitus, Glutenunverträglichkeit, Morbus Cushing oder Morbus Crohn in Erwägung ziehen … Im zweiten Monat, den sie damit zubrachte, Ernesto von Abteilung zu Abteilung zu folgen, erschien sie vor allem blutarm, obwohl die Anzahl ihrer roten Blutkörperchen das Gegenteil bezeugte. Man machte zwei CT s und eine Kernspintomographie, weitere Röntgenaufnahmen von Schädel und Thorax, die diesmal von der vollzählig versammelten Kollegenschaft Ernestos erörtert wurden, außerdem von einer Kapazität aus der Schweiz, die für diesen Anlass hinzugezogen wurde: alle gleichermaßen angesteckt von Ernestos beeindruckender Redegabe und von seiner verständlichen Sorge als Elternteil. Mariannas Fall war mittlerweile eine öffentliche Angelegenheit, und fast vergaß man, welches Symptom diese Jagd ausgelöst hatte: ein nicht bestandenes Universitätsexamen. Mittlerweile betrachteten wir sie als krank, als gefährdet. Sie war einfach zu schwach oder zu müde, um sich zu widersetzen. Wie ich erst viel später rekonstruierte und eigentlich aus gewissen schlauen Blicken, die sie mir hin und wieder zuwarf, schon früher hätte schließen können, wollte sie sehen, wie weit Ernesto gehen würde, wollte der ganzen Welt vorführen, wie schlimm seine Verrücktheit war, um den Preis, das am eigenen Leib zu büßen. Sie willigte ein, dass man ihr eine harmlose Talgdrüse hinter dem linken Ohr entfernte und dass man ihr eine Sonde durch die Speiseröhre in den Magen schob, um die Magenwände abzusuchen.
Nach dem negativen Ergebnis der Gastroskopie sagte Nini völlig unerwartet, jetzt sei es genug, man könne sie nicht weiter quälen. Sie wusste schon seit langem, dass ihrer Tochter nichts
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