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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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«Marianna, am Tag deiner Hochzeit, als wir zum Altar gingen, da waren wir nicht unbesiegbar. Das redeten wir uns nur ein. Wir erzählten uns, dass es auch so gutginge, sogar besser, alle würden uns sehen … frei und unabhängig. Aber das stimmt nicht. Wir waren bloß zwei Verrückte. Sie hatten Mitleid mit uns.»
    Jetzt schweigt Marianna, während der Oberleutnant den üblen Geschmack auskostet, der damit verbunden ist, zu weit gegangen zu sein, über eine Linie hinaus, die er zuvor nicht einmal in den Blick zu nehmen wagte.
    «Wir sprechen bald wieder, Marianna», sagt er.
    Er hört noch den letzten, leisen Protest der Schwester – «Du hast dich mit ihr verbündet?» –, der ihm einen Stich ins Herz versetzt. Er kann nichts dagegen machen. Er legt den Hörer auf.
    Nein, er hat sich nicht mit Nini verbündet. Er ist niemandes Verbündeter.

[zur Inhaltsübersicht]
    Dritter Teil
Männer
    Das Leben ohne Schuld der Nutria
    In letzter Zeit ging Ernesto am Spätnachmittag aus dem Haus, um stets denselben Spaziergang am Flussufer zu machen. Er zog sich wärmer an als nötig, Pullover und Strickjacke übereinander, wie um einem Körper, den er zu verlieren drohte, Fülle zu geben. Er ging, den Blick nach oben gewandt, ein skeptischer Ausdruck lag darin, und er gelangte zu der Stelle, wo der Flusslauf sich zu einem Becken mit stehendem Wasser erweitert. Er setzte sich auf eine Bank aus lackiertem Metall unweit vom Ufer. Hier schöpfte er wieder Atem und maß sich mit Hilfe seiner Armbanduhr an der Halsschlagader den Puls. Wenn die Werte in den Normbereich zurückgekehrt waren, zog er eine Papiertüte mit trockenem Brot aus der Tasche und zerkrümelte es zwischen den Fingern, langsam und sich räuspernd. Manchmal brachte er statt Brot Apfelschnitze mit.
    Die Nutria, denen er zu fressen gab, waren schmutzige Tiere, eine Art großer Mäuse mit verklebten Schnauzen, langen hellen Barthaaren und nassglänzendem Fell. Sie lebten in dem Tümpel und an dem schlammigen Ufer, alle auf einem Haufen. «Siehst du?», sagte er eines Tages zu mir. «Sie sind wie die Kinder. Alle bereit, für ein bisschen Nahrung die anderen wegzudrängen. Sie sind so unschuldig. Und bedürftig. Widerwärtige Opportunisten.»
    Während die Nager sich um die Mahlzeit scharten, sprach Ernesto über Marianna als Kind. Er wiederholte dieselben Wortspiele, die ich schon Dutzende Male gehört hatte und die durch das oftmalige Erzählen inzwischen abgenutzt waren. Es gelang ihm nicht, diese Episoden damit zu vereinbaren, dass seine Tochter Rache an ihm genommen hatte, vielleicht war er auch gar nicht imstande, ihr Verhalten als solche zu erkennen. Rache wofür?, hätte er gefragt. Er war nie sonderlich geneigt gewesen, sich in Frage zu stellen. Lieber begnügte er sich mit einer Reihe von Phantasien. Was die Tochter betraf, so lebte sie irgendwo, und er erwähnte sie nicht. In Luftlinie dürfte sie sich nicht allzu weit weg von dem Teich der Nutria befinden, aber sicher war sie Lichtjahre von seinem Herzen entfernt. Genau betrachtet war eben das die verblüffende Neuigkeit der letzten Tage, die ich mit meinem Vater verbrachte: Ich hatte immer geglaubt, er hätte kein Herz. Ich konnte es erst jetzt sehen, da es unheilbar gebrochen war.
    Als sein Zustand sich plötzlich verschlechterte, nahm ich drei Wochen Urlaub und zog wieder zu Hause ein. Ich war Ninis und Ernestos Gast, Gast in dem Zimmer, in dem ich aufgewachsen war. Auf dem Bett liegend, sah ich die Tür zu Mariannas Zimmer, dieselbe Tür, die ich zahllose Male voller Angst angestarrt hatte, während ich zu erraten versuchte, was dahinter wohl vor sich gehen mochte, wenn Marianna sich an Nachmittagen ohne die Eltern mit Jungs dort einschloss.
    Ich hatte einen Satz Handtücher und eine Zahnbürste bei mir. Jedes Mal, nachdem ich sie benutzt hatte, legte ich sie zurück in den Koffer. Es widerstrebte mir, im Bad oder anderswo Dinge liegenzulassen, die mir gehörten. Auf jedem Möbel lag ein solcher Firnis von Vergangenheit, dass sie bestimmt auf der Stelle verschluckt und in eine andere, unzugängliche Zeitdimension versetzt worden wären. Abends, wenn ich mein Gesicht im Spiegel betrachtete, fiel mein Blick auf die Aufkleber mit der Giraffe und dem Elefanten.
Sei ein braves Kind, putz die Zähne dir geschwind. Für den Zwischenraum der Zähne nicht faul den Seidenfaden nehme.
Im Stillen sagte ich mir die Verschen auf, ich empfand weder Groll noch Nostalgie.
    Ninis diskrete und eiserne Ordnung

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