Der menschliche Körper
herrschte noch in der Wohnung. Wenige Wochen später, noch am Tag, als mein Vater starb, sollte sie die Wohnung mit leichtem Gepäck verlassen und zu ihrer Schwester ziehen, die vor ihr Witwe geworden war, und nie mehr zurückkehren. Erst da verstand ich, wie wenig sie an der Wohnung hing, in der wir zusammengelebt hatten. Wenn sie sie je wirklich geliebt hatte, musste sie irgendwann damit aufgehört haben, und niemand von uns hatte es bemerkt. Ich hätte Anzeichen dafür feststellen können, zum Beispiel sehen, dass der Haushalt sie immer mehr anstrengte (sie hatte sich damit abgefunden, eine Ausländerin zu nehmen, die ihr alle zwei Tage helfen kam, wodurch sie mit einem Schlag gegen drei oder vier Prinzipien ihrer Charta der Nüchternheit verstieß), aber ich achtete schon seit einiger Zeit nicht auf Ninis Verfall.
Seit Mariannas Aufstand war sie Tag für Tag weniger geworden, geistig wie körperlich. Ihr Leben lief weiter wie auf einem dünnen alten Filmband, das sie von außen umgab. Sie reagierte noch auf Aufforderungen, wie man es von ihr erwartete, oder genauer, wie man es von einem Automaten mit dem Aussehen einer kleinen, sechzigjährigen Frau erwarten würde. Wenn sie selten lächelte, war ihr Lächeln leer und erinnerte mich daran, dass ich auf gar keinen Fall ein hinreichender Grund für die Wiederbelebung ihrer Freude war. Auch Ernesto war das nicht, Nini beobachtete den schnellen Verlauf seiner Krankheit wie den Vollzug einer göttlichen Strafe, die sie beide traf. Früher hätte sie diesem stummen Gefühl Ausdruck gegeben mit einem Satz wie: «Das haben wir uns wirklich
verdient
.»
Die Vormittage waren mit Ernestos Aufenthalten im Krankenhaus und der damit verbundenen, entmutigend umfangreichen Bürokratie ausgefüllt. Er hatte einunddreißig Jahre lang in demselben Krankenhaus gearbeitet, in einem Gebäude knapp vierzig Meter und zwei Stockwerke von der Abteilung für Urologie entfernt, wo er jetzt behandelt wurde. Die Ernennung zum Chefarzt hatte er um ein Haar verfehlt, aber er genoss wenige Privilegien. Wie alle anderen Patienten auch wartete er auf der Reihe blauer Plastikstühle im Gang, unruhig und ununterbrochen redend. Damals war er besessen von den chemischen Lösungsmitteln, die unter die Farben gemischt wurden, mit denen auch die Wände dieses Korridors gestrichen waren, von der elektromagnetischen Umweltverschmutzung und von dem Phthalat, das in rauen Mengen im Plastikgeschirr des Krankenhausessens enthalten war und eben Prostatakrebs erzeugte. Seiner Schätzung nach hatte er sechsunddreißig Zentner belasteten Essens zu sich genommen. Als ob das jetzt noch einen Unterschied machte.
Hin und wieder erkannte ihn ein jüngerer Kollege, blieb stehen und plauderte ein wenig mit ihm. Ernesto nutzte die Gelegenheit, um ihn in die Enge zu treiben und die Therapie, der er unterzogen wurde, zu kritisieren. Er legte alternative Behandlungsmethoden dar, die er sich in den Nachtstunden ausdachte, und zitierte exotische und recht fragwürdige Quellen der neuesten onkologischen Literatur. Niemals hätte er einem Fachmann so getraut wie sich selbst und seinen Intuitionen, nicht einmal auf einem Gebiet, auf dem er sich nicht auskannte. In diesen improvisierten Medizinvorlesungen, die häufig auf die allgemeine Lehre ausgeweitet wurden, war er noch immer so überzeugend, dass er mich oft auf seine Seite zog. Aber es war klar, dass er diese Faszination nur noch auf mich ausübte und auf niemanden sonst. Der Mann im weißen Kittel nickte ungeduldig, nur scheinbar beteiligt. Und wenn er im Verlauf des Tages noch einmal vorbeikam, blieb er nicht mehr stehen.
«Das Leben gibt nicht viel zurück», sagte ich eines Morgens, weil ich mir sicher war, dass ein Gedanke dieser Art ihn quälen musste. Ernesto zuckte mit den Achseln. Er hatte keine Lust zu antworten. Das Alter hatte verschiedene Aspekte seiner Person angegriffen, aber nicht den Respekt vor dem geordneten Gedankengang, der immer logisch und deduktiv sein musste. Er duldete keine Phantastereien über das, was die Wirklichkeit war oder nicht, es sei denn, es gab objektive Beweise. Und außerdem, schien er mir mit seinem Schweigen zu entgegnen, ist klar, dass dir das Leben nicht das zurückgibt, was du dir erwartest.
Eines Nachts im Februar bekam er Atemnot. Die Ambulanz holte ihn und brachte ihn ins Krankenhaus. Er wurde auf die Intensivstation gebracht, intubiert und an eine Infusion gehängt. Sie waren so umsichtig, ihn in ein Einzelzimmer zu
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