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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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im Kopf hatte, setzte sie mit der Gründlichkeit um, die ich immer an ihr bewundert hatte. Sie nahm den Kontakt zu einem Jungen wieder auf, mit dem sie sich bis vor wenigen Monaten ohne Begeisterung getroffen hatte, ein blasser Typ, der sie bewunderte und den Nini mit der ganzen Kraft ihrer stillen inneren Haltung ablehnte, sie zog zu ihm, und ein Jahr später machte sie ihn zu ihrem Bräutigam. Sie lehnte jede Einmischung seitens unserer Eltern und jede Vermittlung meinerseits ab. Sie brachte das bravouröse Kunststück zuwege, nie das Wort an Nini oder Ernesto zu richten, auch nicht versehentlich und auch nicht, um zu sagen, lasst mich in Ruhe. Ein für alle Mal spielte sie mit waghalsiger Geschwindigkeit ihre eigene absteigende Tonleiter, fehlerfrei bis zu den tiefsten Bässen auf der Tastatur.
    So belebte sie die Vergangenheit noch einmal neu: sämtliche Schmähreden Ernestos, die Feiern zu ihren Ehren, die geschenkte und zurückgenommene Liebe, die Ermahnungen Ninis, die Vorsichtsmaßnahmen, das unablässige und besessene Lernen, die Mathematik-Olympiade, bei der sie Zweite wurde, die Kosenamen, die Solfeggien, die ins Klavier gedroschenen Akkorde, die durch die fünf Stockwerke des Hauses bis hinunter in die Garagen widerhallten und von dort unter die Erde, die syntaktisch perfekten und eiskalten Gymnasialaufsätze. Jedes einzelne dieser Elemente hatte dazu beigetragen, Marianna aufzuziehen wie einen Federmechanismus. Eine Million Drehungen an dem Zinnsoldaten, der sie war. Der Schlüssel war abgesprungen, und sie war auf ihr Ziel losgelaufen. Dabei zählte es kaum, dass dieses Ziel die Tischkante war: Mit Abgründen hatten wir alle in der Familie eine gewisse Vertrautheit.
    Nach der Hochzeit sprachen wir fast gar nicht mehr über unsere Eltern, auch nicht über Freunde, über nichts, was zwischen uns von Belang gewesen wäre.
    Wenn ich sie besuchte, war sie immer in Gesellschaft ihres Mannes. Ich begriff nicht, wie ein Racheakt so kaltblütig ins Werk gesetzt und mit solcher Beharrlichkeit ausgeführt werden konnte. Sie hatte alles schon sehr viel früher beschlossen, die einzelnen Schachzüge vorhergesehen. Ein kleines Manöver hatte einen verheerenden Prozess in Gang gesetzt. Es hatte nicht einmal einen wirklichen Streit gegeben, jeder war reglos in seiner Höhle sitzen geblieben und hatte zugesehen. Beim Studium der Knochen hatte ich im Übrigen gelernt, dass die schlimmsten Brüche diejenigen sind, die man sich im Ruhezustand zuzieht, wenn der Körper beschließt, in seine Teile zu zerfallen, und das auch tut; im Bruchteil einer Sekunde zerfällt er in so viele Stücke, dass es undenkbar ist, ihn wieder zusammenzusetzen.
    Bei Ernestos Begräbnis fragten mich nicht viele nach Marianna. Einige vermieden es aus einem natürlichen Hang zur Vorsicht, die meisten aber hatten sich im Lauf der Jahre eine ziemlich konfuse und schauerliche Vorstellung von der Sachlage gebildet, sodass sie lieber den Mund hielten. Anscheinend war auch ein so versiegeltes Haus wie das der Egittos nicht hermetisch abgeschlossen.
    Ein paar Tage nach der Beerdigung wandte ich mich an einen Kollegen im Militärhospital, der Psychiater war. Ich bat ihn um ein Rezept, ohne ihm zu gestatten, mich zuvor zu untersuchen, und ohne irgendeines der Motive zu erläutern, die mich zu ihm geführt hatten. Ich sagte nur, dass ich mich noch nie in meinem ganzen Leben so müde gefühlt hätte, dass zu dieser unglaublichen Müdigkeit eine ebenso große Hektik hinzukomme und dass beides zusammen mich nicht schlafen lasse. Er solle entscheiden, was, welcher Wirkstoff auch immer, imstande wäre, mich etwas runterzubringen, ich verlangte nichts weiter, als auszuruhen, zu verschwinden. «Wenn du es nicht machst, geh ich zu jemand anderem, oder stelle mir das Rezept selbst aus», drohte ich ihm.
    Widerwillig kritzelte der Kollege das Rezept, mit der Aufforderung, in einem Monat wiederzukommen. Ich ging nicht wieder hin. Ich fand es bequemer, das Medikament auf Kosten der Truppe zu bestellen, eine Anzahl von Schachteln, mit der ich lange auskommen würde. Eine Pille am Tag, jede, um eine Frage auszulöschen, auf die ich im Lauf der Zeit keine Antwort gefunden hatte: Was ist eine Familie? Warum bricht ein Krieg aus? Wie wird man Soldat?

Das Gras wächst unermüdlich
    Die Tatsache, dass die Heimkehr aus dem Einsatz mit dem beginnenden Frühling zusammenfiel, war ein Unglück für die Alpini. Die Jahreszeit ist zu sehr von Sehnsucht erfüllt, ein echter Schock,

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