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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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durch die hauchdünne Membran des Lebens vor der Auslöschung bewahrt blieben?
    Als ich mich setzte, näherte sich das Programm, das den Proben vorausging, gerade seinem Ende. Ein lebhafter Redner in Sporthemd und Kakihose stand vor den leeren Orchesterstühlen und stellte den Zuhörern die letzten der Stücke vor, die sie heute hören würden - von einem Tonband spielte er ihnen Ausschnitte von Rachmaninow vor und sprach munter von »der dunklen, rhythmischen Qualität« der Symphonischen Tänze. Erst als er geendet hatte und das Publikum ihm Beifall spendete, trat jemand von der Seite auf die Bühne, entfernte die Stoffabdeckung über den Kesselpauken und stellte die Noten auf die Ständer. Am anderen Ende der Bühne wurden von ein paar Arbeitern die Harfen hereingetragen, und dann erschienen die Musiker. Sie plauderten miteinander, während sie über die Bühne schlenderten, und wie der Redner waren sie zu dieser Probe in Freizeitkleidung erschienen - da war ein Oboist in einem grauen Kapuzensweatshirt, ein paar Bassisten trugen ausgebleichte Levi's, und die Violinisten, Männer wie Frauen, hatten sich anscheinend allesamt bei Banana Republic eingekleidet. Als der Dirigent - ein Gastdirigent, Sergiu Commissiona, ein älterer Rumäne, weißer Haarschopf, blaue Segeltuchschuhe - seine Brille aufsetzte und das kindlich höfliche Publikum abermals zu applaudieren begann, sah ich Coleman und Faunia durch den Mittelgang gehen und nach möglichst nah an der Bühne gelegenen Plätzen suchen.
    Die Musiker, kurz vor der Verwandlung von einem Haufen scheinbar sorgloser Urlauber in eine kraftvolle, geschmeidige Musikmaschine, hatten sich bereits gesetzt und stimmten in Zweiergruppen ihre Instrumente, als das Paar - die große blonde Frau mit dem hageren Gesicht und der schlanke, gut aussehende, grauhaarige Mann, der nicht so groß wie sie und weit älter war, auch wenn er noch immer seinen leichtfüßigen Athletengang hatte - zu zwei leeren Plätzen drei Reihen vor mir und etwa sechs Meter rechts von mir ging.
    Das Stück von Rimski-Korsakow war ein melodiöses Märchen für Flöten und Oboen, dessen Süße das Publikum unwiderstehlich fand, und als der letzte Ton verklungen war, brandete wieder der begeisterte Beifall der älteren Zuhörer auf. Die Musiker hatten ja auch die Tür zu der jüngsten, unschuldigsten unserer Vorstellungen vom Leben geöffnet, zu der unzerstörbaren Sehnsucht nach einem Leben, das so nicht ist und nie sein kann. Das dachte ich jedenfalls, als ich den Blick auf meinen früheren Freund und seine Geliebte richtete und feststellte, dass sie ganz und gar nicht so ungewöhnlich oder menschlich isoliert wirkten, wie ich sie mir vorgestellt hatte, seit Coleman aus meinem Leben verschwunden war. Und sie wirkten auch keineswegs wie unschickliche Menschen, am wenigsten Faunia, deren scharf geschnittenes Yankee-Gesicht mich an einen schmalen Raum mit Fenstern, aber ohne Tür denken ließ. Nichts an diesen beiden deutete darauf hin, dass sie mit dem Leben im Streit lagen oder sich in der Offensive oder Defensive befanden. Wäre Faunia allein in dieser ungewohnten Umgebung gewesen, dann hätte sie vielleicht nicht so entspannt gewirkt, doch mit Coleman an ihrer Seite erschien ihre Affinität zu diesem Ort so natürlich wie ihre Affinität zu diesem Mann. Wie sie da saßen, sahen sie nicht aus wie zwei Desperados, sondern wie ein Paar, das seine eigene, aufs Äußerste konzentrierte heitere Gelassenheit erlangt hat und keinerlei Notiz von den Gefühlen und Fantasien nimmt, die seine Anwesenheit irgendwo auf der Welt - und gewiss im County Berkshire - hervorrufen könnte.
    Ich fragte mich, ob Coleman sie zuvor instruiert hatte, wie sie sich benehmen sollte. Ich fragte mich, ob sie, wenn es so war, überhaupt zugehört hatte. Ich fragte mich, ob eine Instruktion erforderlich war. Ich fragte mich, warum er mit ihr nach Tanglewood gekommen war. Wollte er nur die Musik hören? Wollte er, dass sie die Musik hörte und die Musiker sah? War der im Ruhestand befindliche Professor für klassische Literatur unter der Schirmherrschaft der Aphrodite, in der Verkleidung des Pygmalion und in der Atmosphäre von Tanglewood dabei, aus der widerspenstigen, rebellischen Faunia eine geschmackvoll kultivierte Galatea zu machen? Hatte Coleman beschlossen, sie zu bilden, sie zu beeinflussen, sie aus der Tragödie ihrer Fremdheit zu erretten? War Tanglewood der erste große Schritt in dem Prozess, ihre Ungeschliffenheit in etwas

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