Der menschliche Makel
weniger Unorthodoxes zu verwandeln? Warum jetzt schon? Warum überhaupt? Warum - wenn doch alles, was sie hatten und füreinander waren, aus dem Untergründigen, dem Heimlichen, Groben entstanden war? Warum sich die Mühe machen, diese Verbindung zu normalisieren oder zu regularisieren, warum auch nur den Versuch unternehmen, indem man sich als »Paar« präsentierte? Auftritte in der Öffentlichkeit vermindern gewöhnlich die Intensität der Beziehung - war es das, was sie eigentlich wollten? Was er wollte? War jetzt die Zähmung in den Mittelpunkt gerückt, oder hatte die Tatsache, dass sie hier saßen, gar nichts zu bedeuten? War es nur eine Art Scherz, den sie sich erlaubten, oder eine Tat, mit der sie Aufsehen erregen wollten, eine bewusste Provokation? Lächelten sie innerlich, diese beiden sinnlichen Tiere, oder lauschten sie bloß der Musik?
Da sie, als in der Pause der Flügel für Prokofjews zweites Klavierkonzert auf die Bühne geschoben wurde, nicht aufstanden, um sich zu strecken und die Beine zu vertreten, blieb ich ebenfalls sitzen. Unter dem Dach war eine eher herbstliche als sommerliche Kühle, doch draußen ließ die Sonne die weite Rasenfläche leuchten und wärmte diejenigen, die lieber von dort aus die Musik genießen wollten: ein größtenteils jüngeres Publikum aus Leuten in den Zwanzigern, Müttern mit kleinen Kindern und Familien, die bereits die Picknickpakete aus den Körben holten. Drei Reihen vor mir neigte Coleman seinen Kopf leicht zu Faunia und sprach ernst und leise mit ihr, aber worüber er sprach, wusste ich natürlich nicht.
Denn wir wissen es nicht, stimmt's? Jeder weiß ... Wie es kommt, dass etwas so geschieht, wie es geschieht? Welchen Mechanismen die Anarchie gehorcht, der die Beziehungen zwischen Menschen unterworfen sind, die Anarchie der Ereignisketten, der Ungewissheiten und unglücklichen Zufälle, der Disparitäten und erschreckenden Unregelmäßigkeiten? Niemand weiß, Professor Roux. Mit »Jeder Weiß« ruft man das Klischee an und beginnt mit der Banalisierung der Erfahrung, und das eigentlich Unerträgliche sind die Feierlichkeit und das Gefühl der Autorität, mit der die Leute das Klischee aussprechen. Wir wissen nur, dass auf individuelle Weise niemand irgendetwas weiß. Man kann gar nichts wissen. Die Dinge, von denen man weiß , dass man sie nicht weiß. Absicht? Motiv? Folge? Bedeutung? Was wir nicht wissen, ist erstaunlich. Noch erstaunlicher ist, was wir als Wissen betrachten.
Als das Publikum wieder hereinströmte, begann ich mir wie ein Cartoon-Zeichner die tödlichen Krankheiten vorzustellen, die, ohne dass wir es ahnen, in jedem von uns, in jedem einzelnen von uns arbeiten: Ich visualisierte, wie sich die Blutgefäße unter diesen Baseballmützen verengten, wie die bösartigen Tumore unter den weißen Dauerwellen wucherten, wie die Organe Fehlfunktionen hatten, schwächer wurden, aussetzten, wie die Hunderte von Milliarden mörderischer Zellen dieses ganze Publikum unablässig auf das unwahrscheinliche Verhängnis zumarschieren ließen. Ich konnte gar nicht mehr aufhören. Was für eine atemberaubende Dezimierung ist der Tod, der uns alle dahinrafft. Orchester, Publikum, Dirigent, Techniker, Schwalben, Zaunkönige - man stelle sich vor, wie viele allein in Tanglewood von jetzt bis zum Jahr 4000. Und dann multipliziere man das mit allem. Dieses ununterbrochene Vergehen. Was für eine Vorstellung! Welcher Wahnsinnige hat sich das ausgedacht? Und doch: Was für ein herrlicher Tag heute ist, ein Geschenk von einem Tag, ein perfekter Tag, dem es an diesem Ausflugsort in Massachusetts, so hübsch und harmlos wie nur irgendeiner, an nichts fehlt.
Dann erscheint Bronfman. Bronfman der Brontosaurier! Mr. Fortissimo! Auftritt Bronfman, der Prokofjew in einem Tempo und mit so viel draufgängerischem Schwung spielt, dass meine Morbidität glatt aus dem Ring fliegt. Er hat einen auffallend massiven Oberkörper, er ist eine Naturgewalt, die sich mit einem Sweatshirt getarnt hat, jemand, der auf die Bühne geschlendert kommt und eigentlich zu einem Zirkus gehört, wo er der starke Mann ist, und für den der Flügel eine lachhafte Herausforderung der gewaltigen Kräfte darstellt, über die er verfügt. Yefim Bronfman wirkt weniger wie der Mann, der auf dem Flügel spielen soll, als vielmehr wie einer, der ihn herumschieben soll. Ich hatte noch nie zuvor jemanden gesehen, der sich einem Klavier so näherte wie dieses stämmige kleine Fass von einem unrasierten
Weitere Kostenlose Bücher