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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Familie in New Jersey Nachforschungen anzustellen. Wenn ich nun einer dieser jüdischen Jungen aus Newark gewesen war, die nach der Schule zu Doc Chizners Boxunterricht gekommen waren? Und tatsächlich war ich einer von ihnen gewesen, allerdings erst 1946 oder 47, als Silky dem Doc nicht mehr half, Jungen wie mir beizubringen, wie man stehen, sich bewegen und zuschlagen musste, sondern bereits mit einem Gl-Stipendium an der NYU studierte.
    Auf jeden Fall ging er, indem er sich zu der Zeit, als er Dunkle Gestalten schrieb, mit mir anfreundete, das Risiko - das törichte Risiko - ein, nach beinahe sechs Jahrzehnten als der schwarze Jahrgangsbeste der East Orange Highschool identifiziert zu werden, als der schwarze Junge, der im Boys Club in der Morton Street für Amateurturniere in Jersey trainierte, bevor er als Weißer in die Navy eintrat; auch wenn ich nicht wissen konnte, warum, sprach alles dafür, mich mitten in jenem Sommer wieder fallen zu lassen.
    Also dann zu dem letzten Mal, als ich ihn sah. Eines Samstags im August fuhr ich, weil ich mich einsam fühlte, nach Tanglewood, um mir die öffentliche Probe des Konzertprogramms anzuhören, das am nächsten Tag gespielt werden sollte. Es war eine Woche nachdem ich unterhalb seines Hauses geparkt hatte; ich vermisste sowohl Coleman selbst als auch das Gefühl, einen vertrauten Freund zu haben, und so beschloss ich, mich unter das eher kleine Samstagmorgenpublikum zu mischen, das bei diesen Proben etwa ein Viertel der vorhandenen Plätze füllt, ein Publikum, in dem Musik liebende Sommergäste neben durchreisenden Musikstudenten sitzen, das aber hauptsächlich aus älteren Touristen besteht, aus Leuten mit Hörgeräten und Ferngläsern, aus Leuten, die in der New York Times blättern und mit Ausflugsbussen in die Berkshires gekommen sind.
    Vielleicht lag es an der Eigenartigkeit der Situation, die daher rührte, dass ich mich unter Menschen begeben und das momentane Gefühl hatte, ein geselliges Wesen zu sein (oder ein Wesen, das Geselligkeit vortäuschte), oder vielleicht lag es auch an dem flüchtigen Gedanken, diese hier versammelten alten Leute seien Reisende, Deportierte, die darauf warteten, dem nur zu greifbaren Gefängnis des Alters auf den Klängen der Musik zu entschweben - an diesem heiteren, sonnigen Samstag in Coleman Silks letztem Sommer erinnerte mich die Überdachung der Zuschauerplätze an die an den Seiten offenen Piers, die sich einst in den Hudson gereckt hatten, als wäre einer dieser geräumigen, auf Stahlträgern ruhenden Piers aus der Zeit, da in Manhattan noch Linienschiffe andockten, in seiner ganzen Gewaltigkeit aus dem Wasser gehoben, raketenschnell hundertachtzig Kilometer weit nach Norden transportiert und mit einer perfekten Landung unbeschädigt auf dem weiten Rasen von Tanglewood abgesetzt worden, einem Ort mit hohen Bäumen und einer weiten Aussicht über das bergige Neuengland.
    Als ich mich zu einem freien Platz vorarbeitete, einem der wenigen nahe der Bühne, die noch nicht mithilfe eines Pullovers oder eines Jacketts reserviert waren, dachte ich daran, dass wir alle gemeinsam irgendwohin unterwegs waren, ja dass wir eigentlich schon angekommen waren und alles hinter uns gelassen hatten ... und dabei bereiteten wir uns doch bloß darauf vor, das Boston Symphony Orchestra Rachmaninow, Prokofjew und Rimski-Korsakow proben zu hören. Der Boden des Pavillons besteht aus gestampfter brauner Erde, und nichts könnte deutlicher machen, dass unter dem Stuhl terra firma ist; im Gebälk der Dachkonstruktion sitzen Vögel, deren Zwitschern man in den gewichtigen Pausen zwischen den Orchestersätzen hört: Schwalben und Zaunkönige, die vom Wald am Fuß des Hügels herbeigeflogen kommen und dann in einer Weise wieder davonschwirren, wie keiner der Vögel auf Noahs dahintreibender Arche es gewagt hätte. Wir waren etwa drei Autostunden westlich des Atlantiks, doch ich wurde das Gefühl nicht los, sowohl hier zu sein, wo ich war, als auch zusammen mit den anderen Senioren zu einem geheimnisvollen, wässrigen Unbekannten aufgebrochen zu sein.
    Beschäftigte mich lediglich der Tod, wenn ich an diesen Aufbruch dachte? Der Tod und ich selbst? Der Tod und Coleman? Oder der Tod und diese Zusammenkunft von Menschen, die noch immer Gefallen daran finden konnten, sich mit Bussen herumfahren zu lassen wie ein Haufen Camper auf einem Sommerausflug, und die doch, als eine greifbare Menge, aus empfindsamem Fleisch und warmem, rotem Blut bestanden und nur

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