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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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russischen Juden. Wenn er fertig ist, dachte ich, können sie das Ding wegschmeißen. Er zerschmettert es. Er holt alles heraus. Alles, was da drin ist, muss raus und dabei die weiße Fahne schwenken. Und wenn das geschehen ist, wenn alles, auch die letzte der letzten Schwingungen, offenliegt, erhebt er sich und geht und hinterlässt uns unsere Erlösung. Ein lässiges Winken, und dann ist er plötzlich verschwunden, und obgleich er all sein Feuer mitnimmt, als wäre er eine Urkraft wie Prometheus, erscheint uns unser Leben jetzt unauslöschlich. Niemand wird sterben, niemand - nicht, wenn es nach Bronfman geht.
    Es gab in dieser Probe eine weitere Pause, und als Faunia und Coleman sich diesmal erhoben, um hinauszugehen, tat ich dasselbe. Ich wartete, um sie vorzulassen, denn ich wusste nicht, wie ich Coleman ansprechen sollte - schließlich schien ihm an mir inzwischen nicht mehr zu liegen als an irgendeinem anderen hier - oder ob ich ihn überhaupt ansprechen sollte. Dennoch vermisste ich ihn. Und was hatte ich eigentlich getan? Diese Sehnsucht nach einem Freund tauchte wieder auf, genau wie damals, als wir uns kennengelernt hatten, und wegen der Anziehungskraft, die Coleman auf mich ausübte, einem Zauber, den ich nie benennen konnte, fand ich wieder einmal kein wirksames Mittel dagegen.
    Ich blieb etwa drei Meter hinter ihnen, als sie in einer sich langsam vorwärts bewegenden Traube von Menschen den Mittelgang hinauf zum sonnenbeschienenen Rasen gingen. Coleman sprach wieder leise mit Faunia. Seine Hand lag zwischen ihren Schulterblättern; er schob sie voran, während er ihr erklärte, was immer es über irgendetwas, das sie nicht wusste, zu erklären gab. Draußen schlenderten sie über den Rasen, vermutlich in Richtung des Eingangstors, hinter dem die Wiese lag, die als Parkplatz diente, und ich versuchte nicht, ihnen zu folgen. Als ich mich umdrehte, sah ich im Licht der Bühnenbeleuchtung die acht wunderschönen Kontrabässe, die die Musiker vor der Pause abgestellt hatten, in einer Reihe nebeneinander auf der Seite liegen. Warum auch das mich an unser aller Tod erinnerte, konnte ich nicht ergründen. Ein Friedhof voller liegender Musikinstrumente? Hätten sie mir nicht freundlichere Gedanken an eine Schule Wale eingeben können?
    Ich stand auf dem Rasen, reckte mich und genoss für einige Augenblicke die Sonne auf meinem Rücken, bevor ich zu meinem Platz zurückkehrte, um Rachmaninow zu hören, als ich sie sah - offenbar hatten sie nur einen kleinen Spaziergang gemacht, vielleicht damit Coleman ihr den Ausblick nach Süden zeigen konnte -, und nun gingen sie wieder zu ihren Plätzen, um zu hören, wie das Orchester die öffentliche Probe mit den Symphonischen Tänzen beschloss. Um meine Neugier zu befriedigen, ging ich direkt auf sie zu, obgleich sie noch immer wie Menschen wirkten, die auf ihre Privatsphäre bedacht waren. Ich winkte Coleman zu, ich winkte und sagte: »Oh, Hallo, Coleman, hallo«, und trat ihnen in den Weg.
    »Ich dachte vorhin schon, ich hätte Sie gesehen«, sagte Coleman, und obwohl ich ihm nicht glaubte, dachte ich: Was könnte er Besseres sagen, um ihr die Befangenheit zu nehmen? Um mir die Befangenheit zu nehmen. Um sich selbst die Befangenheit zu nehmen. Er zeigte nichts anderes als den Charme des nüchternharten, entspannten Dekans der Fakultät und schien kein bisschen irritiert über mein unvermitteltes Auftauchen. »Mr. Bronfman ist schon was ganz Besonderes.
    Ich habe gerade zu Faunia gesagt, dass er die Lebenserwartung dieses Flügels gerade um zehn Jahre verkürzt hat.«
    »So etwas in der Art dachte ich auch.«
    »Das ist Faunia Farley«, sagte er zu mir und zu ihr: »Das ist Nathan Zuckerman. Ihr habt euch auf der Farm gesehen.«
    Sie hatte eher meine als seine Größe. Hager und herb. Den Augen war, wenn überhaupt, dann nur wenig zu entnehmen. Ein entschieden ungesprächiges Gesicht. Sinnlichkeit? Nicht vorhanden. Nirgends zu entdecken. Außerhalb des Melkstands war alles Verführerische verschwunden. Sie schaffte es, sich so zu zeigen, dass man sie eigentlich gar nicht sehen konnte. Die Fähigkeiten eines Tieres, ob Raubtier oder Beutetier.
    Sie trug - wie Coleman - ausgebleichte Jeans und Mokassins und ein kariertes altes Flanellhemd mit Buttondownkragen und aufgekrempelten Ärmeln, das ich als eines von seinen erkannte.
    »Sie haben mir gefehlt«, sagte ich zu ihm. »Vielleicht kann ich Sie beide einmal zum Abendessen einladen.«
    »Gute Idee. Ja. Das machen

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