Der menschliche Makel
Liebesgeschichte zu entfliehen (allerdings auch, um in dem Drama mit dem Titel usw . - dem Drama des beinahe kriminell erfolgreichen Lebens ihrer Mutter, in dem sie nur eine Nebenrolle spielte -, endlich den Abgang zu machen). Im Augenblick aber fühlt sie sich extrem einsam in ihrer Not, einen Mann zu finden, mit dem sie in Verbindung treten kann.
Was andere, die sie anmachen wollen, sagen, ist manchmal ganz akzeptabel, manchmal auch ironisch oder boshaft genug, um charmant zu sein, aber dann werden sie plötzlich schüchtern und ziehen sich wieder zurück, denn von Nahem ist sie schöner, als sie gedacht haben, und für eine so zierliche Frau etwas arroganter, als sie erwartet haben. Diejenigen, die den Blickkontakt mit ihr suchen, sind automatisch diejenigen, die sie nicht mag. Und diejenigen, die in ihr Buch vertieft sind, so charmant versunken und so charmant begehrenswert, sind ... in ihr Buch vertieft. Nach wem sucht sie? Sie sucht nach dem Mann, der sie erkennen wird. Sie sucht nach dem Großen Erkenner.
Heute liest sie ein französisches Buch von Julia Kristeva, eine der schönsten Abhandlungen über Melancholie, die je geschrieben worden sind, und gegenüber, am nächsten Tisch, sieht sie einen Mann sitzen, der ausgerechnet ein französisches Buch von Kristevas Ehemann Philippe Sollers liest. Sollers ist jemand, dessen Verspieltheit sie nicht mehr ernst nehmen kann, obgleich sie das in einem früheren Stadium ihrer intellektuellen Entwicklung sehr wohl getan hat; im Gegensatz zu den verspielten osteuropäischen Schriftstellern wie Kundera befriedigen die verspielten französischen Schriftsteller sie nicht mehr... aber das ist jetzt, in der New York Public Library, ohne Bedeutung. Von Bedeutung ist die Koinzidenz, eine Koinzidenz, die schon beinahe unheimlich ist. Delphine ist sehnsuchtsvoll und unruhig, sie gibt sich tausend Spekulationen über den Mann hin, der Sollers liest, während sie Kristeva liest, und spürt, dass nicht eine Anmache bevorsteht, sondern eine Affäre. Sie weiß, dass dieser vierzig-oder zweiundvierzigjährige dunkelhaarige Mann genau die Gravitas besitzt, die sie in Athena nicht finden kann. Die Schlüsse, die sie aus der Art, wie er ruhig dasitzt und liest, ziehen kann, machen sie immer zuversichtlicher, dass etwas geschehen wird.
Und so ist es: Ein Mädchen tritt zu ihm und begrüßt ihn, eindeutig ein Mädchen, sogar noch jünger als sie, und die beiden gehen gemeinsam hinaus, und sie sammelt ihre Sachen ein und verlässt ebenfalls die Bibliothek, und beim ersten Briefkasten, den sie sieht, nimmt sie den Brief aus der Handtasche - den Brief, den sie nun schon seit über einem Monat mit sich herumträgt - und rammt ihn in den Schlitz, mit einem Gefühl ähnlich der Wut, mit der sie zu der Frau in der Pollock-Ausstellung gesagt hat, sie würde sie am liebsten erwürgen. Da! Weg ist er! Ich hab's getan! Gut!
Es vergehen volle fünf Sekunden, bevor ihr die Tragweite ihres Fehlers bewusst wird, und sie spürt, dass ihre Knie weich werden. »O Gott!« Obwohl sie den Brief nicht unterschrieben hat, obwohl sie eine vulgäre Ausdrucksweise gewählt hat, die nicht die ihre ist, wird ein so auf sie fixierter Mann wie Coleman Silk nicht lange rätseln müssen, von wem er stammen könnte.
Jetzt wird er sie niemals mehr in Ruhe lassen!
4
Welcher Wahnsinnige hat sich das ausgedacht?
Nach jenem Juli sah ich Coleman nur noch einmal. Er selbst erzählte mir nie von seinem Besuch im College und dem Telefongespräch, das er vom Haus der Studentenvertretung mit seinem Sohn Jeff geführt hatte. Dass er auf dem Campus gewesen war, erfuhr ich, weil er beobachtet worden war - unabsichtlich, von einem Bürofenster aus -, und zwar von seinem ehemaligen Kollegen Herb Keble, der gegen Ende seiner Grabrede erwähnte, er habe Coleman im Schatten einer Mauer an der North Hall stehen sehen, wo er sich, aus Gründen, über die Keble nur spekulieren konnte, anscheinend verbarg. Von dem Telefongespräch wusste ich, weil Jeff, mit dem ich nach der Beerdigung sprach, ein paar Worte darüber verlor, aus denen ich schließen konnte, dass Coleman bei diesem Gespräch vollkommen die Beherrschung verloren hatte. Nelson Primus erzählte mir von der Unterredung, zu der Coleman am Tag dieses Telefongesprächs in seiner Kanzlei erschienen war und die ebenfalls damit geendet hatte, dass Coleman in wüste Schmähungen ausgebrochen war. Weder Primus noch Jeff Silk sprachen danach noch einmal mit Coleman. Er erwiderte weder
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