Der menschliche Makel
ihre noch meine Anrufe - wie sich zeigte, erwiderte er überhaupt keine Anrufe mehr -, und irgendwann schien er auch den Anrufbeantworter ausgeschaltet zu haben, denn wenn ich versuchte, ihn zu erreichen, läutete das Telefon einfach immer weiter.
Er war jedoch allein in seinem Haus - er war nicht weggefahren. Ich wusste das, weil ich nach einigen Wochen erfolgloser Anrufe eines Samstags Anfang August nach Einbruch der Dunkelheit an seinem Haus vorbeigefahren war. Es brannten nur ein paar Lampen, doch als ich am Rand der asphaltierten Straße unter Colemans weit ausladenden, uralten Ahornbäumen anhielt, den Motor abstellte und reglos in meinem Wagen sitzen blieb, den ich am unteren Ende des welligen Rasengrundstücks geparkt hatte, hörte ich durch die offenen, mit schwarzen Läden versehenen Fenster des weißen Holzhauses Tanzmusik, das abendfüllende Samstagsprogramm auf UKW, das ihn wieder in die Sullivan Street und die Arme von Steena Palsson versetzte. Er ist jetzt dort drinnen, und bei ihm ist nur Faunia. Sie beschützen einander vor allen anderen Menschen - jeder von ihnen enthält für den anderen alle anderen Menschen. Sie tanzen, höchstwahrscheinlich nackt, jenseits der Qualen der Welt, in einem überirdischen Paradies erdgebundener Lust, wo ihre Verbindung das Drama ist, in das sie alle wütende Enttäuschung ihres Lebens gießen. Mir fiel ein, was er mir über Faunia erzählt hatte, über etwas, was sie im Nachklang eines ihrer gemeinsamen Abende, wenn zwischen ihnen so viel zu geschehen schien, gesagt hatte. »Das ist mehr als bloß Sex«, hatte er zu ihr gesagt, und sie hatte entschieden widersprochen: »Nein, ist es nicht. Du hast bloß vergessen, was Sex eigentlich ist. Das hier ist Sex und nichts anderes. Mach's nicht kaputt, indem du so tust, als wär's was anderes.«
Wer sind sie jetzt? Sie sind die schlichtestmögliche Version ihrer selbst. Die Essenz der Einzigartigkeit. Alles Schmerzhafte zu Leidenschaft geronnen. Vielleicht bedauern sie nicht einmal mehr, dass alles so ist, wie es ist. Dafür haben sie sich zu tief in ihren Abscheu eingegraben. Sie sind unter allem, was man je über ihnen aufgehäuft hat, hervorgekrochen. Es gibt im Leben nichts mehr, was sie so in Versuchung führt, nichts mehr, was sie so erregt, nichts mehr, was ihren Hass auf das Leben so im Zaum hält wie diese intime Nähe. Wer sind diese beiden grundverschiedenen Menschen, die sich mit Einundsiebzig und Vierunddreißig gefunden haben, obwohl sie gar nicht zueinanderpassen? Sie sind füreinander das Unheil, dem sie unterworfen sind. Zu den Klängen von Tommy Dorseys Band und dem schmachtenden Gesang des jungen Sinatra tanzen sie splitternackt genau auf einen gewaltsamen Tod zu. Jeder Mensch begegnet seinem Ende anders, und diese beiden führen es eben so herbei. Sie können jetzt nicht mehr rechtzeitig aufhören. Die Sache ist entschieden.
Ich bin nicht der Einzige, der auf der Straße steht und die Musik hört.
Als Coleman mich nicht zurückrief, nahm ich an, dass er nichts mehr mit mir zu tun haben wollte. Irgendetwas war schiefgegangen, und ich vermutete - wie man es tut, wenn eine Freundschaft und insbesondere eine neue Freundschaft abrupt endet -, dass ich dafür verantwortlich war, wenn auch vielleicht nicht, weil ich etwas Indiskretes gesagt oder getan und ihn damit erbost oder beleidigt hatte, so doch, weil ich war, wer und was ich war. Man darf nicht vergessen, dass Coleman ursprünglich in der unrealistischen Hoffnung zu mir gekommen war, er könne mich überreden, ein Buch zu schreiben, in dem geschildert wurde, wie das College seine Frau umgebracht hatte; dass derselbe Schriftsteller jetzt in seinem Privatleben herumschnüffelte, war wahrscheinlich das letzte, was er wollte. Der einzige Schluss, den ich ziehen konnte, war, dass es ihm inzwischen aus irgendeinem Grund weit klüger erschien, mich nicht mehr ins Vertrauen zu ziehen und die Einzelheiten seiner Beziehung zu Faunia vor mir zu verbergen.
Natürlich wusste ich damals noch nichts von seiner wirklichen Herkunft - auch davon erfuhr ich erst bei seiner Beerdigung -, und so konnte ich nicht ahnen, dass der wahre Grund, warum wir uns in den Jahren vor Iris' Tod nicht begegnet waren, der Grund, warum er mir aus dem Weg ging, die Tatsache war, dass ich nur wenige Kilometer von East Orange entfernt aufgewachsen war und, da ich mit dieser Region vertrauter war als die meisten anderen, vielleicht zu viel wusste oder neugierig genug war, um über seine
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