Der menschliche Makel
Sie werden beten. Die meisten werden nach Namen suchen. Sie werden miteinander reden, wie Leute das eben tun, Les. Ein paar von ihnen werden weinen. Das ist alles. Nur damit du weißt, was da drüben ist. Du kannst dir Zeit lassen, aber du kommst mit uns.«
Für November war es ungewöhnlich warm, und als sie sich der Wand näherten, sahen sie, dass viele Männer in Hemdsärmeln waren und einige Frauen Shorts trugen. Es war Mitte November, und die Leute hatten Sonnenbrillen auf, aber sonst war es genauso, wie Louie gesagt hatte. Blumen, Menschen, Kinder, Großeltern. Und die Reisende Wand war keine Überraschung; er hatte sie in Zeitschriften und auf T-Shirts und einmal auch im Fernsehen gesehen, bevor er schnell abgeschaltet hatte: Bilder von der echten, großen Wand in Washington. Auf der gesamten Länge des asphaltierten Parkplatzes waren diese dunklen, verfugten Steine, deren Anblick ihm vertraut war, zu einem aufragenden Friedhof aus senkrechten Tafeln übereinandergestapelt, zu einer Wand, die an beiden Enden leicht abfiel und in weißen Lettern mit all den Namen beschriftet war. Der Name eines jeden Toten war nicht länger als ein Viertel eines kleinen Fingers. Größer durfte er auch nicht sein, wenn man alle dort unterbringen wollte, 58209 Menschen, die nicht mehr spazieren oder ins Kino gehen, die es aber geschafft haben, weiterzuexistieren, und sei es nur als Inschrift auf einer transportablen, schwarzen, rückseitig von einer Balkenkonstruktion gestützten Aluminiumwand auf einem Parkplatz hinter einem Ramada Inn in Massachusetts.
Als Swift das erste Mal an der Wand gewesen war, hatte er nicht aussteigen können, und die anderen hatten ihn aus dem Bus und bis dorthin zerren müssen, bis er direkt davorstand, und danach hatte er gesagt: »Man kann die Wand weinen hören.« Als Chet das erste Mal an der Wand gewesen war, hatte er mit den Fäusten darauf eingeschlagen und geschrien: »Da sollte nicht Billys Name stehen - nein, Billy, nein! -, da sollte mein Name stehen!« Als Bobcat das erste Mal an der Wand gewesen war, hatte er bloß die Hand ausgestreckt und sie berührt, und dann hatte er sie nicht mehr wegnehmen können - eine Art Anfall, hatte der VA-Arzt gesagt. Als Louie das erste Mal an der Wand gewesen war, hatte er nicht lange gebraucht, um zu merken, was hier los war, und seine Sache auf den Punkt zu bringen. »Okay, Mikey«, hatte er laut gesagt, »hier bin ich. Ich bin hier«, und Mikey hatte mit seiner eigenen Stimme geantwortet: »Ist schon gut, Lou. Schon okay.«
Les kennt all diese Geschichten darüber, was beim ersten Mal passieren kann, und jetzt ist er zum ersten Mal hier und spürt nichts. Es passiert gar nichts. Alle sagen, es wird immer besser, du wirst immer besser damit zurechtkommen, jedes Mal, wenn du wieder hingehst, wird es besser, bis wir dann irgendwann mit dir nach Washington fahren und du Kennys Namen auf der großen Wand suchst, und das, das wird dann der Augenblick der wahren Heilung sein - all diese gewaltig aufgetürmten Erwartungen, und dann passiert nichts. Nichts. Swift hat die Wand weinen hören - Les hört nichts. Er spürt nichts, er hört nichts, er kann sich nicht mal mehr erinnern. Wie damals, als er gesehen hat, dass seine beiden Kinder tot sind. Dieser Riesenvorspann, und dann nichts. Er hatte solche Angst, zu viel zu spüren, und jetzt spürt er nichts, und das ist noch schlimmer. Es beweist, dass er trotz allem, trotz Louie und der Fahrten zum chinesischen Restaurant, trotz der Medikamente und der Alkoholabstinenz, die ganze Zeit recht hatte und eigentlich längst tot ist. In dem chinesischen Restaurant hat er etwas gespürt, und das hat ihn für eine Weile getäuscht. Doch jetzt weiß er mit Sicherheit, dass er tot ist, denn es gelingt ihm nicht mal, die Erinnerung an Kenny heraufzubeschwören. Sie hat ihn immer so gequält, und jetzt kann er nicht mal irgendeine Verbindung zu ihr herstellen.
Weil es sein erstes Mal ist, bleiben die anderen mehr oder weniger in der Nähe. Sie gehen, einer nach dem anderen, mal kurz weg, um einem bestimmten Freund die Ehre zu erweisen, aber einer bleibt immer da, um ein Auge auf ihn zu haben, und jeder, der zurückkommt, umarmt Les. Sie alle glauben, dass sie in diesem Augenblick tiefer miteinander verbunden sind als je zuvor, und weil Les den dazugehörigen glasigen Blick hat, glauben sie, dass er jetzt die Erfahrung macht, die er, wie sie finden, machen soll. Sie haben keine Ahnung, dass er, als er den Blick zu den
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