Der menschliche Makel
wird. Er hat über Sex gelogen? Scheiße. Es gibt kaum was, über das diese verdammte Regierung nicht lügt. Nein, auch ohne diese Veterans-Day-Verarschung hatte die Regierung der Vereinigten Staaten Lester Farley schon genug verarscht.
Und doch fuhr er ausgerechnet an diesem Tag in Louies Kleinbus nach Pittsfield. Ihr Ziel war die im Maßstab eins zu zwei verkleinerte Replik der echten Wand, die seit etwa fünfzehn Jahren durch das ganze Land gefahren wurde; vom 10. bis 16. November konnte man sie, gesponsert vom örtlichen Veteranenverband, auf dem Parkplatz des Ramada Inn besuchen. Bei dieser Fahrt waren dieselben Jungs dabei, die ihm geholfen hatten, die Qual des chinesischen Essens zu überstehen. Sie waren entschlossen, ihn nicht allein gehen zu lassen, das hatten sie ihm unentwegt versichert: Wir werden bei dir sein, wir werden zu dir halten, wenn es sein muss, werden wir jeden Tag rund um die Uhr bei dir sein. Louie hatte sogar gesagt, Les könne danach mit zu ihm und seiner Frau kommen und bleiben, solange er wolle - sie würden sich um ihn kümmern. »Du wirst nicht allein nach Hause gehen müssen, Les, jedenfalls nicht, wenn du nicht willst. Ich finde, du solltest es auch nicht versuchen. Komm mit zu mir und Tess. Tessie kennt das. Tessie versteht das. Über Tessie brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Als ich zurückkam, wurde sie zu meiner Motivation. Meine Einstellung war: ›Wie kann irgendwer mir sagen, was ich zu tun habe?‹ Ich hab ohne jeden Anlass Wutanfälle gekriegt. Du kennst das. Du kennst das alles, Les. Aber Gott sei Dank hat Tessie zu mir gehalten. Wenn du willst, hält sie auch zu dir.«
Louie war ein Bruder, der beste Bruder, den ein Mann sich nur wünschen konnte, aber weil er so darauf bestand, zu dieser Wand zu fahren, weil er so scheißfanatisch darauf bestand, dass er diese Wand besuchte, musste Les sich mit aller Kraft zusammenreißen, um diesem Scheißkerl nicht an die Gurgel zu gehen. Lass mich in Ruhe, verdammter Hispano-Krüppel! Hör auf, mir zu erzählen, dass du zehn Jahre gebraucht hast, um zur Wand zu fahren. Hör auf, mir zu erzählen, wie das dein Scheißleben verändert hat. Hör auf, mir zu erzählen, wie du mit Mikey Frieden gemacht hast. Hör auf, mir zu erzählen, was Mikey an der Wand zu dir gesagt hat. Ich will's nicht wissen!
Und doch sind sie unterwegs, und wieder sagt Louie zu ihm: »›Schon okay, Louie‹, hat Mikey zu mir gesagt, und dasselbe wird Kenny zu dir sagen. Er hat zu mir gesagt, dass es okay ist, dass ich mit meinem Leben weitermachen kann.«
»Ich halte das nicht aus, Lou - kehr um.«
»Entspann dich, Kumpel. Wir haben schon die Hälfte hinter uns.«
»Kehr um, verdammt!«
»Les, du kannst es nicht wissen, bevor du nicht da warst. Du musst da hin«, sagte Lou freundlich, »und du musst es rauskriegen.«
»Ich will es aber gar nicht rauskriegen!«
»Wie wär's, wenn du noch ein paar von deinen Pillen nimmst? Eine kleine Ativan. Eine kleine Valium. Ein bisschen extra kann nicht schaden. Gib ihm die Wasserflasche, Chet.«
Als sie in Pittsfield waren und Louie gegenüber dem Ramada Inn geparkt hatte, war es nicht leicht, Les zum Aussteigen zu bewegen. »Ich mach das nicht«, sagte er, und so standen die anderen draußen herum, rauchten und ließen ihm ein bisschen Zeit, bis die Wirkung der Tabletten eingesetzt hatte. Von der Straße aus behielt Louie ihn im Auge. Es waren viele Polizeiwagen und Busse da. An der Wand fand irgendeine Feier statt: Man hörte die Lautsprecherstimme eines örtlichen Politikers, wahrscheinlich der fünfzehnte, der an diesem Morgen eine Rede schwang. »Die Männer, deren Namen auf der Wand hinter mir stehen, sind eure Verwandte, Freunde, Nachbarn. Sie sind Christen, Juden, Moslems, sie sind Weiße, Schwarze, Indianer, sie sind allesamt Amerikaner. Sie haben geschworen, euch zu verteidigen und zu beschützen, und sie haben ihr Leben gegeben, um diesen Schwur zu halten. Es gibt keine Ehrung, keine Feier, die unseren Dank und unsere Bewunderung angemessen ausdrücken kann. Das folgende Gedicht hat jemand vor ein paar Wochen in Ohio an der Wand zurückgelassen: ›Wir erinnern uns an dich, lächelnd, stolz, stark / Du hast gesagt, wir sollen uns keine Sorgen machen / Wir erinnern uns an die letzten Umarmungen und Küsse ...‹«
Und als diese Rede vorbei war, gab es noch eine: »... diese Wand voller Namen hinter mir, und wenn ich mir die Leute hier ansehe und die Gesichter von Männern wie mir sehe, von Männern
Weitere Kostenlose Bücher