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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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in mittleren Jahren, von denen einige Orden oder irgendwelche Uniformstücke tragen, dann sehe ich in ihren Augen eine leichte Trauer - vielleicht ist das alles, was von dem Tausend-Meter-Blick übrig geblieben ist, den wir uns angewöhnt hatten, als wir Soldaten waren und gemeinsam im Dreck lagen, zehntausend Kilometer von hier entfernt -, wenn ich das alles sehe, kommt es mir vor, als wäre ich dreißig Jahre zurückversetzt. Das Vorbild für diese Reisende Wand wurde am 13. November 1982 an der Mall in Washington eingeweiht. Ich brauchte ungefähr zweieinhalb Jahre, um dorthin zu fahren. Wenn ich heute zurückblicke, weiß ich, dass ich, wie viele Vietnamveteranen, absichtlich nicht hingefahren bin, weil ich wusste, dass sie schmerzhafte Erinnerungen heraufbeschwören würde. Und so ging ich eines Abends, als sich die Dämmerung herabsenkte, allein dorthin. Ich ließ meine Frau und meine Kinder im Hotel zurück - wir waren auf dem Rückweg von Disney World - und ging zur Wand. Allein stand ich dort, wo sie am höchsten ist, etwa da, wo ich jetzt auch stehe. Und dann kamen die Erinnerungen - dann kam ein Wirbelsturm von Gefühlen. Ich dachte an Leute, mit denen ich aufgewachsen bin, mit denen ich Baseball gespielt habe, Leute aus Pittsfield, deren Namen dort auf der Wand stehen. Ich dachte an meinen Funker Sal. Wir hatten uns in Vietnam kennengelernt. Wir spielten das Woher-bist-du-Spiel. Massachusetts. Massachusetts. Wo in Massachusetts? Aus West Springfield. Ich sagte, ich bin aus Pittsfield. Und Sal ist einen Monat nach meiner Rückkehr gefallen. Ich kam im April zurück und las in der Zeitung, dass Sal sich nicht in Pittsfield oder Springfield auf ein paar Drinks mit mir treffen würde. Ich dachte an andere Männer, an deren Seite ich gekämpft hatte ...«
    Und dann spielte eine Marschkapelle - höchstwahrscheinlich eine Infanteriekapelle - die Battle Hymn of the Green Berets, weswegen Louie zu dem Schluss kam, es sei am besten, das Ende dieser Zeremonie abzuwarten, bevor man Les aus dem Bus holte. Louie hatte den Zeitpunkt ihrer Ankunft so berechnet, dass sie sich die Reden und die emotionale Musik nicht würden anhören müssen, aber anscheinend hatte das Programm mit Verspätung begonnen und war noch im Gange. Mit einem Blick auf die Uhr stellte er fest, dass es beinahe Mittag war - es konnte also nicht mehr lange dauern. Und richtig, mit einmal kamen sie zum Ende. Ein einzelner Hornist blies den Zapfenstreich. Na gut. Schwer genug, den Zapfenstreich auf der Straße zu hören, zwischen all den Polizeiwagen und Bussen, aber immer noch besser als da drüben, bei den weinenden Menschen, wo man's mit dem Zapfenstreich und der Wand zu tun hat. Der Zapfenstreich, der quälende Zapfenstreich, der letzte schreckliche Ton des Zapfenstreichs, und dann spielte die Kapelle God Bless America, und Louie konnte hören, dass die Leute da drüben an der Wand mitsangen - » ...from the mountains, to the prairies, to the oceans, white with foam ... « -, und dann war es plötzlich vorbei.
    Im Kleinbus saß Les und zitterte immer noch, aber wenigstens blickte er sich nicht mehr ständig um und sah nur noch gelegentlich nach oben, nach »den Dingern« über seinem Kopf, und so kletterte Louie mühsam hinein und setzte sich neben ihn, denn er wusste, dass Les' ganzes Leben in diesem Augenblick aus der Angst vor dem bestand, was er an der Wand herausfinden würde, und dass es jetzt darauf ankam, mit ihm dorthin zu gehen und die Sache hinter sich zu bringen.
    »Wir schicken Swift vor, damit er Kenny für dich findet. Es ist eine ganz schön lange Wand, Les. Damit du nicht all diese Namen lesen musst, gehen Swift und die anderen schon mal vor und finden ihn. Die Namen sind chronologisch geordnet. Sie stehen da in zeitlicher Reihenfolge, vom ersten bis zum letzten. Wir haben Kennys Datum, das hast du uns ja gegeben, also wird's wohl nicht allzu lange dauern.«
    »Ich mach das nicht.«
    Swift kam zum Kleinbus, er öffnete die Tür einen Spaltbreit und sagte zu Louie: »Wir haben Kenny. Wir haben ihn gefunden.«
    »Okay, Lester, jetzt geht's los. Kneif die Arschbacken zusammen. Du gehst jetzt da rüber. Es ist da drüben, hinter dem Hotel. Es werden andere Leute da sein, die genau dasselbe tun wie wir. Es gab eine kleine offizielle Feier, aber die ist vorbei - du brauchst dir gar keine Sorgen zu machen. Keine Reden. Kein Gesülze. Nur Kinder und Eltern und Großeltern, und alle werden dasselbe tun. Sie werden Blumenkränze niederlegen.

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