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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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drei amerikanischen Fahnen hebt, die zusammen mit der schwarzen Fahne für die Kriegsgefangenen und Vermissten auf halbmast über dem Parkplatz wehen, nicht an Kenny oder gar den Veterans Day denkt, sondern vielmehr daran, dass alle Fahnen in Pittsfield auf halbmast gesetzt sind, weil sich endlich bestätigt hat, dass Les Farley tot ist. Es ist offiziell: ganz tot, nicht bloß innerlich. Er sagt es den anderen nicht. Wozu auch? Die Wahrheit ist die Wahrheit. »Ich bin stolz auf dich«, flüstert Louie ihm zu. »Ich wusste, du schaffst es. Ich wusste, dass das passieren würde.« Und Swift sagt: »Wenn du irgendwann mal darüber reden willst ...«
    Die heitere Gelassenheit, die ihn überkommt, halten die anderen für einen therapeutischen Erfolg. Die Wand, die heilt steht auf dem Schild vor dem Hotel, und es stimmt. Nachdem sie lange genug vor Kennys Namen gestanden haben, gehen sie mit Les die ganze Wand ab, hin und zurück; sie sehen die anderen Leute nach Namen suchen, sie lassen Lester alles aufnehmen, lassen ihn spüren, dass er endlich an einem Ort ist, wo er mit dem, was er tut, das Richtige tut. »Das ist keine Mauer zum Herumklettern, Schatz«, sagt eine Frau leise zu einem kleinen Jungen, der sich am niedrigen Ende hochgezogen hat, um hinüberzuspähen, und nimmt ihn auf den Arm. »Wie ist sein Nachname?«, fragt ein älterer Mann seine Frau, während er die Namen auf einer der Tafeln überfliegt, von oben nach unten, Zeile für Zeile, die er sorgfältig an den Fingern abzählt. »Hier«, hören sie eine Frau zu einem Kleinkind sagen, das kaum laufen kann; sie berührt mit einem Finger einen Namen auf der Wand. »Genau hier, Süße. Das ist Onkel Johnny.« Sie bekreuzigt sich. »Bist du sicher, dass es Zeile achtundzwanzig war?«, fragt eine Frau ihren Mann. »Ja, ich bin sicher.« »Er muss doch hier sein. Tafel vier, Zeile achtundzwanzig. In Washington habe ich ihn gefunden.« »Also, ich sehe ihn nicht. Ich werde noch mal zählen.« »Das ist mein Vetter«, sagt eine Frau. »Er hat eine Colaflasche geöffnet, und sie ist explodiert. Eine versteckte Sprengladung. Neunzehn Jahre. Weit hinter der Front. Jetzt hat er Frieden, so Gott will.« Ein Veteran mit einer American-Legion-Cap kniet vor einer der Tafeln und hilft zwei schwarzen Frauen, die ihre besten Sonntagskleider tragen. »Wie war der Name?«, fragt er die jüngere. »Bates. James.« »Hier ist er«, sagt der Veteran. »Hier ist er, Ma«, sagt die jüngere Frau.
    Weil die Wand nur halb so groß ist wie die in Washington, müssen viele, die nach einem bestimmten Namen suchen, sich hinknien, und das ist für ältere Leute besonders beschwerlich. Am Fuß der Mauer liegen in Zellophan verpackte Blumen, und jemand hat mit einem Klebeband ein Stück Papier mit einem handgeschriebenen Gedicht befestigt. Louie bückt sich und liest: »Sternenlicht, du heller Stern / der erste Stern am Himmel ...« Es gibt Leute mit rot verweinten Augen. Es gibt Veteranen, die wie Louie die schwarze Veteranenmütze tragen, und manche haben sich auch die Streifen für die verschiedenen Offensiven angesteckt. Ein dicklicher, etwa zehn Jahre alter Junge kehrt der Wand trotzig den Rücken und sagt zu einer Frau: »Ich will das nicht lesen!« Ein stark tätowierter Mann mit einem T-Shirt der First Infantry Division - »Big Red One« steht darauf - geht, die Arme um sich geschlungen, benommen umher und denkt schreckliche Gedanken. Louie bleibt stehen, hält ihn fest und umarmt ihn. Sie alle umarmen ihn. Sie bringen sogar Les dazu, ihn zu umarmen. »Zwei von meinen Highschoolfreunden stehen darauf, innerhalb von achtundvierzig Stunden gefallen«, sagt jemand in der Nähe. »Und die Totenwachen waren im selben Bestattungsunternehmen. Das war ein trauriger Tag in der Kingston High.« »Er war der erste, der nach Vietnam ging«, sagt ein anderer, »und der einzige von uns, der nicht zurückgekommen ist. Und weißt du, was er am liebsten hätte, da an der Wand, unter seinem Namen? Genau dasselbe wie in Nam: eine Flasche Jack Daniel's, ein Paar gute Stiefel und Brownies, gefüllt mit Mösenhaar.«
    Vier Männer stehen beieinander und reden, und als Louie hört, wie sie Erinnerungen austauschen, bleibt er stehen, und die anderen warten ebenfalls. Die vier haben allesamt graue Haare - grau meliert, mit grauen Locken oder, in einem Fall, mit einem grauen Pferdeschwanz, der unter der Veteranenmütze hervorschaut.
    »Ihr wart bei der motorisierten Truppe, stimmt's?«
    »Ja. Wir haben viel

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