Der menschliche Makel
Zeug herumgeschleppt, aber wir wussten, früher oder später geht's wieder zurück in die Heimat.«
»Wir sind die ganze Zeit marschiert. Wir sind durch das ganze verdammte Zentrale Hochland marschiert. Über alle Scheißberge.«
»Bei den motorisierten Einheiten war man nie hinten. Ich war fast elf Monate drüben und in der Zeit nur einmal im Ausbildungslager, gleich nach der Ankunft, und einmal auf Urlaub - das war alles.«
»Wenn sich die Kettenfahrzeuge in Bewegung gesetzt haben, wussten die, dass wir kamen, und sie wussten auch, wann wir da sein würden, und hatten die B 40-Rakete schon bereit. Die hatten jede Menge Zeit, das Ding zu polieren und deinen Namen draufzuschreiben.«
Plötzlich schaltet Louie sich ein. »Wir sind hier«, sagt er zu den vier Fremden. »Wir sind hier, stimmt's? Wir sind alle hier. Lasst mich eure Namen aufschreiben. Eure Namen und Adressen.« Und er zieht sein Notizbuch aus der hinteren Hosentasche und schreibt, auf den Stock gestützt, alles auf, was er braucht, um ihnen den Rundbrief schicken zu können, den er und Tessie ein paarmal im Jahr im Alleingang herausbringen.
Dann gehen sie an den leeren Stühlen vorbei. Beim Kommen waren sie so darauf erpicht, Les zur Wand zu bringen, ohne dass er zusammenbrach oder davonrannte, dass sie die Stühle gar nicht gesehen haben. Am Ende des Parkplatzes stehen einundvierzig alte, graubraune Klappstühle aus Metall, vermutlich aus irgendeinem Kirchenkeller; sie sind in leicht gebogenen Reihen aufgestellt wie bei einer Schulabschlussfeier oder einer Preisverleihung: drei Reihen mit zehn Stühlen und eine mit elf. Auf der Lehne eines jeden Stuhls ist mit Klebeband ein Name befestigt - über dem leeren Sitz ein Name, ein Männername, mit Druckbuchstaben auf eine weiße Karte geschrieben. Eine Menge Stühle sind hier abgesondert, und wie um sicherzugehen, dass sich niemand darauf setzt, ist sie an allen vier Seiten mit einem durchhängenden Seil aus geflochtenem schwarzen und roten Fahnentuch abgesperrt.
Und ein Kranz hängt da, ein großer Kranz aus Nelken, und als Louie, dem nichts entgeht, stehen bleibt und sie zählt, stellt er fest, dass es, wie er vermutet hat, einundvierzig sind.
»Was ist das?«, fragt Swift.
»Das sind die Gefallenen aus Pittsfield. Das sind ihre leeren Stühle«, sagt Louie.
»Verdammt«, sagt Swift. »Was für ein Scheißgemetzel. Kämpf, um zu siegen, oder kämpf gar nicht. Verdammte Scheiße.«
Doch der Nachmittag ist für sie noch nicht vorbei. Auf dem Bürgersteig vor dem Ramada Inn steht ein magerer Kerl mit Brille, der für einen so milden Tag einen viel zu dicken Mantel trägt und ein ernstes Problem hat: Er schreit die Passanten an, er zeigt auf sie, er spuckt, weil er so schreit, und Polizisten aus den Streifenwagen gehen auf ihn zu, um beruhigend auf ihn einzureden, bevor er tätlich wird oder eine Waffe zieht und schießt, falls er eine verborgene Waffe bei sich hat. In einer Hand hält er eine Flasche Whiskey - das ist alles, was er bei sich zu haben scheint. »Seht mich an!«, schreit er.
»Ich bin Scheiße, und jeder, der mich ansieht, weiß, dass ich Scheiße bin! Nixon! Nixon! Nixon hat mir das angetan! Er hat mir das angetan! Nixon hat mich nach Vietnam geschickt!«
So ernst sie auch sind, als sie wieder in den Kleinbus steigen, sosehr die Erinnerung auch auf ihnen lastet, sind sie doch erleichtert zu sehen, dass Les sich, im Gegensatz zu dem Typen auf der Straße, in einem Zustand von Ruhe befindet, wie sie ihn bei ihm nie zuvor erlebt haben. Obgleich sie keine Männer sind, die dazu neigen, transzendente Empfindungen zu äußern, spüren sie in Les' Gegenwart die Gefühle, die den Drang zu solchen Äußerungen oftmals begleiten. Auf dem Heimweg erfährt jeder von ihnen - mit Ausnahme von Les - in dem höchsten ihm zugänglichen Maße, welch ein Mysterium es ist, lebendig und im Fluss zu sein.
Er wirkte heiter und gelassen, aber das war eine Täuschung. Er hatte einen Entschluss gefasst. Er würde den Wagen nehmen. Sie alle auslöschen, einschließlich sich selbst. Ihnen entgegenfahren, am Fluss entlang, auf der linken Seite, auf ihrer Straßenseite, an der Flussbiegung, wo die Straße eine Kurve machte.
Er hat einen Entschluss gefasst. Er hat nichts zu verlieren, er kann nur gewinnen. Es läuft nicht so, dass er es tut, wenn dies oder jenes passiert oder wenn er dies oder jenes denkt oder sieht, und wenn nicht, dann nicht. Sein Entschluss steht so fest, dass er nicht mehr denkt. Es ist ein
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