Der menschliche Makel
das heißt ...« »Und das heißt wie?« fragt er, denn er denkt, er könne bei dieser Gelegenheit wenigstens ein neues Bonmot abstauben. Lächelnd antwortet sie: »Ich weiß es nicht mehr. Es fällt mir später wieder ein«, und damit entwindet sie sich sanft seinen erstaunlich starken Armen. Sie geht sanft mit ihm um - weil es funktioniert, und auch, weil sie weiß, dass er glaubt, es habe etwas mit seinem Alter zu tun, wohingegen es, wie sie ihm auf der Rückfahrt in seinem Wagen erklärt, um etwas geht, das keineswegs so banal ist: Es geht um eine »Geisteshaltung«. »Es geht darum, wer ich bin«, sagt sie zu ihm, und während er alles andere geschluckt hat, ist dies der Satz, der bewirkt, dass es zwei, drei Monate dauert, bis er wieder einmal in der Cafeteria auftaucht, um zu sehen, ob sie dort ist. Manchmal ruft er sie spät in der Nacht oder in den frühen Morgenstunden an. Er liegt in seinem Bett in Back Bay und will mit ihr über Sex reden. Sie sagt, sie würde lieber über Marx reden, und das reicht, um bei diesem konservativen Wirtschaftswissenschaftler den Saft abzudrehen. Und doch sind die Frauen, die sie nicht mögen, überzeugt, dass sie mit ihm geschlafen hat, weil er Macht besitzt. Sie sind außerstande zu begreifen, dass sie, so einsam und freudlos ihr Leben auch ist, keine Neigung verspürt, Arthur Sussmans kleine Geliebte, ein schmückendes Beiwerk, zu werden. Ihr ist auch zu Ohren gekommen, dass eine von ihnen sie »so passe, eine solche Parodie von Simone de Beauvoir« genannt hat. Womit sie zum Ausdruck bringen will, dass Beauvoir sich an Sartre verkauft hat - eine hochintelligente Frau, aber schließlich seine Sklavin. Für diese Frauen, die sie beim Mittagessen mit Arthur Sussman beobachten und das völlig falsch verstehen, ist alles ein Thema, ein ideologischer Standpunkt, ein Verrat - ein Ausverkauf.
Beauvoir hat sich verkauft. Delphine hat sich verkauft, und so weiter, und so weiter. Delphine hat etwas, was diese Frauen gelb vor Neid werden lässt.
Ein weiteres Problem: Sie will sich diese Frauen nicht zu Feindinnen machen. Dennoch ist sie philosophisch von ihnen nicht weniger isoliert als von den Männern. Es wäre nicht klug, es ihnen zu sagen, aber diese Frauen sind im amerikanischen Sinne viel feministischer als sie selbst. Es wäre nicht klug, weil sie Delphine bereits geringschätzig genug behandeln, weil sie immer zu wissen scheinen, wo sie steht, weil sie ihren Motiven und Zielen immer misstrauen: Delphine ist attraktiv, jung, schlank, mühelos elegant, sie ist so schnell aufgestiegen, dass sie über das College hinaus bereits so etwas wie ein Renommee hat, und wie ihre Pariser Freunde gebraucht sie weder die Klischees, die diese Frauen gebrauchen (eben die Klischees, mit denen die Windeln so eifrig entmannt werden), noch ist sie überhaupt auf Klischees angewiesen. Nur in dem anonymen Brief an Coleman Silk hat sie sich ihrer Feministinnen-Rhetorik bedient, und das nicht rein zufällig, weil sie so erschöpft war, sondern letztlich absichtlich, um ihre Identität zu verschleiern. In Wirklichkeit ist sie nicht weniger emanzipiert als diese Feministinnen von Athen, sondern vielleicht sogar mehr: Sie hat ihr Land verlassen, sie hat es gewagt, Frankreich zu verlassen, sie arbeitet hart in ihrem Beruf, sie arbeitet hart an ihren Publikationen, und sie will es schaffen; sie ist auf sich allein gestellt und muss es schaffen. Sie ist ganz allein, ohne Unterstützung, heimatlos, in einem anderen Land - dépaysée. In einem freien Land, aber oft so hoffnungslos dépaysée. Ehrgeizig? Sie ist ehrgeiziger als all diese unsinkbaren Ich-schaffs-allein-Feministinnen zusammen, aber weil Männer sich zu ihr hingezogen fühlen und unter ihnen ein so bedeutender Mann wie Sussman ist, weil sie - einfach so - eine alte Kostümjacke von Chanel zu engen Jeans oder im Sommer ein Etuikleid trägt und Leder und Kaschmir bevorzugt, lehnen die Frauen sie ab. Sie verkneift sich jede Bemerkung über ihre grässliche Garderobe - welches Recht haben sie also, darauf herumzureiten, dass sie Delphines Aufmachung als Rückfall betrachten? Sie weiß alles, was sie in ihrer Verärgerung über sie sagen. Sie sagen, was die Männer, die sie widerwillig respektiert, über sie sagen - dass sie eine unqualifizierte Schaumschlägerin ist -, und das schmerzt sie noch mehr. Sie sagen: »Sie führt die Studenten an der Nase herum.« Sie sagen: »Wie kommt es, dass die Studenten diese Frau nicht durchschauen?« Sie sagen:
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