Der menschliche Makel
dass sie mit ihm geschlafen hat, nur weil er mal mächtig war. Man hat sie gelegentlich beim gemeinsamen Mittagessen in der Cafeteria gesehen. Er kommt in die Cafeteria und sieht so unendlich gelangweilt aus bis sein Blick auf Delphine fällt, und wenn er sie dann fragt, ob er sich zu ihr setzen darf, sagt sie: »Wie großzügig von Ihnen, uns heute mit Ihrer Anwesenheit zu beehren«, oder etwas in der Art. Bis zu einem gewissen Grad gefallen ihm ihre Spötteleien. Beim Mittagessen haben sie eine, wie Delphine es nennt, »richtige Unterhaltung«. Es gibt einen Haushaltsüberschuss von 39 Milliarden, sagt er, doch die Regierung gibt den Steuerzahlern nichts zurück. Die Leute haben es verdient und sollen es selbst ausgeben können - sie brauchen keine Bürokraten, die entscheiden, was mit ihrem Geld geschieht. Er erklärt ihr in allen Einzelheiten, warum die Sozialversicherung in die Hände privater Analysten gelegt werden sollte. Jeder soll selbst in seine Zukunft investieren, sagt er. Warum sollte irgendjemand darauf vertrauen, dass der Staat sich um die Zukunft der Leute kümmert, wenn die Sozialversicherung nur eine magere Rendite bringt, wogegen einer, der über denselben Zeitraum hinweg an der Börse investiert hätte, jetzt doppelt soviel, wenn nicht mehr hätte? Das Fundament seiner Argumentation ist immer die persönliche Souveränität, die persönliche Freiheit, doch dabei begreift er nie, wagt Delphine dem lediglich designierten Finanzminister zu sagen, dass die meisten Leute gar nicht genug Geld haben, um eine Wahl treffen zu können, und nicht genug Bildung, um wenigstens in die richtige Richtung zu gehen - sie haben einfach nicht die Fertigkeiten, um sich auf dem Markt zurechtzufinden. Sein Modell, erklärt sie ihm, basiert auf einer Vorstellung von radikaler persönlicher Freiheit, die in seinem Gedankengebäude auf eine radikale Souveränität in Bezug auf das Marktgeschehen reduziert ist. Der Haushaltsüberschuss und die Sozialversicherung - das sind zwei Themen, die ihn nicht loslassen, und sie sprechen jedes Mal darüber. Er scheint Clinton vor allem deshalb zu hassen, weil der alle Maßnahmen ergreift, die Sussman für richtig hält, allerdings in einer Version der Demokratischen Partei. »Nur gut«, sagt er zu Delphine, »dass dieser kleine Scheißer Bob Reich nicht dort ist. Er hätte Clinton dazu gebracht, Milliarden dafür auszugeben, dass Leute für Jobs umgeschult werden, die sie nie kriegen können. Gut, dass er nicht mehr im Kabinett ist. Wenigstens ist Bob Rubin dabei, wenigstens haben sie einen, der einen klaren Kopf hat und weiß, wie der Hase läuft. Wenigstens haben er und Alan den Zinssatz da gelassen, wo er hingehört. Wenigstens haben er und Alan die wirtschaftliche Erholung in Gang gehalten ...«
Abgesehen von seinen schroffen Insiderbemerkungen über wirtschaftliche Entwicklungen gefällt ihr, dass er sich bei Marx und Engels wirklich gut auskennt. Noch beeindruckender: Er hat sich mit der Deutschen Ideologie beschäftigt, einem Text, der sie immer fasziniert hat, den sie liebt. Wenn er sie zum Abendessen in Great Barrington ausführt, entwickeln sich die Dinge sowohl romantischer als auch intellektueller als mittags in der Cafeteria. Beim Abendessen spricht er gern Französisch mit ihr. Eine der Eroberungen, die er vor Jahren gemacht hat, stammte aus Paris, und er spricht endlos von dieser Frau. Delphine sperrt allerdings vor Staunen nicht gerade den Mund auf, wenn er von seiner Pariser Affäre und den zahlreichen erotischen Plänkeleien davor und danach erzählt. Er prahlt ständig mit seinen Liebschaften, auf eine sehr diskrete Weise, die sie nach einer Weile gar nicht mehr so diskret findet. Es ärgert sie sehr, dass er sie mit seinen Eroberungen meint beeindrucken zu können, aber sie findet sich, nur leicht gelangweilt, damit ab, denn andererseits ist sie froh, mit einem intelligenten, selbstbewussten, gebildeten Mann von Welt zu Abend zu essen. Wenn er ihre Hand nimmt, sagt sie ihm etwas, dem er entnehmen kann, dass er verrückt ist, wenn er glaubt, sie werde mit ihm ins Bett gehen. Manchmal legt er auf dem Parkplatz seinen Arm um sie und drückt sie an sich. Er sagt: »Ich kann nicht immer wieder mit Ihnen Zusammensein, ohne dass ein bisschen Leidenschaft dabei ist. Ich kann nicht mit einer Frau ausgehen, die so schön ist wie Sie, und mit ihr reden und reden und reden und den Abend dann einfach enden lassen.« »In Frankreich gibt es ein Sprichwort«, sagt sie, »und
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