Der menschliche Makel
Missbilligung der Trois Grasses, dass sie ständig zu berechnen versucht, durch welche Verhaltensweise sie sich diese drei gewogen machen könnte, ohne ihr eigenes Selbstgefühl noch weiter zu beschädigen und die Ansichten der Frau, die sie einst ganz selbstverständlich war, vollkommen falsch darzustellen, und gelegentlich erschüttert, ja beschämt angesichts der Diskrepanz zwischen der Art, wie sie mit Literatur umgehen muss, um beruflichen Erfolg zu haben, und den Gründen, warum sie sich ursprünglich überhaupt der Literatur zugewandt hat, ist Delphine zu ihrer Verblüffung in Amerika so gut wie isoliert. In einem anderen Land, isoliert, entfremdet, verwirrt hinsichtlich allem, was im Leben wesentlich ist, in einem verzweifelten Zustand verwirrter Sehnsucht und umzingelt von Kräften, die ihr Vorhaltungen machen und sie als Gegnerin bezeichnen. Und das alles nur, weil sie sich so energisch auf die Suche nach einem eigenen Leben gemacht hat. Alles nur, weil sie mutig war und sich geweigert hat, sich selbst auf die von anderen vorgegebene Weise zu betrachten. Es kommt ihr so vor, als hätte sie sich selbst zerstört in dem durchaus bewundernswerten Versuch, sich selbst zu erschaffen. Es ist schon sehr gemein, dass das Leben ihr das antut. Es muss im Kern schon sehr gemein und rachsüchtig sein, um ein Schicksal zu verhängen, das nicht den Gesetzen der Logik folgt, sondern den widerstreitenden Launen der Perversion gehorcht. Wage es, dich deiner eigenen Vitalität anzuvertrauen, und du könntest dich ebenso gut einem hartgesottenen Verbrecher ausliefern. Ich werde nach Amerika gehen und die Urheberin meines Lebens sein, sagt sie; ich werde mich außerhalb der Orthodoxie, die meine Familie mir vorgibt, konstruieren, ich werde gegen die vorgegebene, leidenschaftliche, auf die Spitze getriebene Subjektivität kämpfen, gegen den Individualismus in Reinkultur - und sie landet stattdessen in einem Drama, das sich ihrer Kontrolle entzieht. Sie ist die Urheberin von gar nichts. Da ist der Drang, etwas zu meistern, und das, was gemeistert wird, ist schließlich man selbst.
Wie kann es nur so unmöglich sein, zu wissen, was man tun soll?
Delphine wäre mutterseelenallein, wenn es nicht Margo Luzzi gäbe, die Sekretärin des Fachbereichs, eine unscheinbare, geschiedene Frau in den Dreißigern, ebenfalls einsam, wunderbar kompetent, unendlich schüchtern, die alles für Delphine tun würde, die manchmal ihr Sandwich in Delphines Büro isst und in Athena eigentlich die einzige erwachsene Freundin der Fachbereichsleiterin ist. Und dann gibt es da noch die Gastautoren. Sie scheinen an ihr genau das zu mögen, was die anderen hassen. Aber sie kann sie nicht ausstehen. Wie ist sie zwischen all diese Stühle geraten? Und wie kommt sie hier wieder heraus? Und wie es nur einen geringen Trost bietet, ihre Kompromisse zu einem »faustischen Handel« zu stilisieren, so sind auch ihre Versuche, sich ihre Existenz zwischen den Stühlen als eine Art »kunderasches inneres Exil« vorzustellen, wenig hilfreich.
Sucht. Na gut, sucht. Halt dich an das Motto der Studenten: Gib Gas! Junge, zierliche, feminine, attraktive, akademisch erfolgreiche, in Frankreich geborene Wissenschaftlerin (weiß) aus Pariser Familie, Dr. phil. in Yale, Wohnsitz in Massachusetts, sucht...? Und jetzt schreib es einfach hin. Versteck dich nicht vor der Wahrheit dessen, was du bist, und versteck dich nicht vor der Wahrheit dessen, was du suchst. Eine umwerfende, brillante, hyperorgasmische Frau sucht... sucht... sucht ganz konkret und kompromisslos was?
Sie schrieb es jetzt eilig hin.
Reifen Mann mit Rückgrat. Ungebunden. Unabhängig. Geistreich. Lebhaft. Herausfordernd. Freimütig. Sehr gebildet. Satirischer Geist. Charme. Wissen über große Bücher. Liebe zu großen Büchern. Höflich und geradeheraus. Sportliche Statur. 1,72 bis 1,75. Südländischer Teint. Grüne Augen bevorzugt. Alter unbedeutend. Muss jedoch ein Intellektueller sein. Ergrauendes Haar kein Hindernis, sondern wünschenswert...
Und da, erst da verdichtete sich das Bild des mythischen Mannes, das auf dem Bildschirm so ernsthaft beschworen wurde, zum Porträt eines Menschen, den sie bereits kannte. Abrupt hielt sie inne. Es war nur ein Experiment gewesen, eine Übung, um den Griff der Gehemmtheit ein wenig zu lockern, bevor sie eine erneute Anstrengung unternahm, ein Inserat zu formulieren, dessen Aussage nicht durch zu viel Umsicht verschleiert wurde. Dennoch war sie bestürzt über das,
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