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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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was ihr eingefallen war, wer ihr eingefallen war, und in ihrem Kummer hätte sie diese paar Dutzend nutzlosen Wörter am liebsten so schnell wie möglich gelöscht. Sie dachte auch an die vielen Gründe - darunter auch ihre Scham -, die Niederlage als einen Segen zu betrachten und die Hoffnung aufzugeben, sie könnte durch eine so unvorstellbar kompromittierende Tat an ihrer Existenz zwischen den Stühlen etwas ändern ... Sie dachte daran, dass sie, wäre sie in Frankreich geblieben, dieses Inserat nicht brauchen würde, dass sie für nichts ein Inserat brauchen würde, am allerwenigsten, um einen Mann zu finden... Sie dachte daran, dass nach Amerika zu kommen das Mutigste war, was sie je getan hatte, dass sie jedoch damals nicht hatte wissen können, wie mutig es gewesen war. Damals war es der nächste Schritt auf dem Weg gewesen, den der Ehrgeiz ihr gewiesen hatte, kein primitiver Ehrgeiz, sondern ein würdiger Ehrgeiz: der Ehrgeiz, unabhängig zu sein - und nun musste sie die Konsequenzen tragen. Ehrgeiz. Abenteuer. Glanz. Der Glanz dessen, der nach Amerika geht. Die Überlegenheit. Die Überlegenheit dessen, der fortgeht. Der fortgegangen ist, um eines Tages das Vergnügen zu haben, zurückzukehren, es geschafft zu haben, im Triumph heimzukehren. Fortgegangen, weil ich eines Tages heimkommen und sie sagen hören wollte - was wollte ich sie sagen hören? »Sie hat es geschafft. Das hat sie geschafft. Und wenn sie das geschafft hat, dann kann sie alles schaffen. Eine Frau, die 47 Kilo wiegt, 1,57 groß, zwanzig Jahre alt und ganz allein, sie ist ganz allein dorthin gegangen, mit einem Namen, der niemandem etwas sagte, und sie hat es geschafft. Aus eigener Kraft. Niemand kannte sie dort. Sie hat sich aus eigener Kraft geschaffen.« Und wer war es, der das sagen sollte? Und wenn sie es gesagt hätten, welchen Unterschied hätte es gemacht? »Unsere Tochter in Amerika ...« Ich wollte, dass sie sagen würden, dass sie würden sagen müssen: »Sie hat es allein geschafft in Amerika.« Weil ich keinen französischen Erfolg haben konnte, keinen wirklichen Erfolg, nicht mit meiner Mutter und ihrem Schatten, der über allem liegt, dem Schatten ihrer Leistungen, aber auch - schlimmer noch - dem Schatten ihrer Familie, dem Schatten der Walincourts, die ihren Namen von dem Ort haben, der ihnen im 13. Jahrhundert von Ludwig dem Heiligen als Lehen verliehen worden ist, und die noch immer an den Familienidealen hängen, die im 13. Jahrhundert festgelegt worden sind. Wie Delphine all diese Familien hasste, diese reine, uralte Provinzaristokratie, diese Menschen, die alle gleich dachten und aussahen, verbunden durch dieselben erdrückenden Werte und dieselbe erdrückende Kirchenfrömmigkeit. Ganz gleich, wie ehrgeizig sie sind, wie sehr sie ihre Kinder antreiben - sie erziehen ihre Kinder noch immer mit derselben Litanei von Wohltätigkeit, Selbstlosigkeit, Disziplin, Glauben und Respekt; Respekt nicht vor dem Individuum ( Nieder mit dem Individuum!), sondern vor den Traditionen der Familie. Über der Intelligenz, über der Kreativität, über der tief gehenden Entwicklung, die man als Individuum machte, über allem standen die Traditionen der blöden Walincourts! Es war Delphines Mutter, die diese Werte verkörperte und sie dem Haushalt aufzwang, und sie hätte ihre einzige Tochter von der Wiege bis zum Grab an diese Werte gekettet, wenn diese nicht vom Teenageralter an die Kraft gehabt hätte, so weit wie möglich vor ihrer Mutter davonzulaufen. Die Walincourt-Kinder in Delphines Generation verfielen entweder in absolute Konformität oder rebellierten auf so schauerliche Weise, dass kein Mensch sie mehr verstand, und Delphines Leistung war es, dass sie keins von beiden getan hatte. Ihr war eine einzigartige Flucht aus Verhältnissen gelungen, von denen sich wenige auch nur ansatzweise erholen. Indem sie nach Amerika, nach Yale, nach Athena gekommen war, hatte sie ihre Mutter tatsächlich übertroffen - ihre Mutter, die ihrerseits nicht einmal im Traum daran hätte denken können, Frankreich zu verlassen; ohne Delphines Vater und sein Geld hätte Catherine de Walincourt mit Zweiundzwanzig kaum davon träumen können, die Picardie zu verlassen und nach Paris zu gehen. Denn wer wäre sie schon gewesen, wenn sie die Picardie und die Festung ihrer Familie verlassen hätte? Welches Gewicht hätte ihr Name gehabt? Ich bin fortgegangen, weil ich eine Leistung vorzeigen wollte, die niemand falsch deuten konnte, die nichts mit ihnen zu

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