Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
Vom Netzwerk:
»Sehen sie denn nicht, dass sie bloß ein französischer Chauvinist in Frauenkleidern ist?« Sie sagen, dass sie nur faule de mieux Leiterin des Fachbereichs geworden ist. Und sie machen sich über ihre Ausdrucksweise lustig. »Tja, natürlich ist es ihr intertextueller Charme, der ihr diese Anhängerschaft eingebracht hat. Ihr Verhältnis zur Phänomenologie. Sie ist eine überragende Phänomenologin, hahaha!« Sie weiß, was sie sagen, um sie lächerlich zu machen, und doch weiß sie, dass sie in Frankreich und Yale für dieses Vokabular gelebt hat; sie glaubt, dass eine gute Literaturwissenschaftlerin sich dieses Vokabulars bedienen muss. Sie muss über Intertextualität Bescheid wissen. Bedeutet das, dass sie eine Schaumschlägerin ist? Nein! Es bedeutet, dass sie in keine Schublade passt. In manchen Kreisen würde sie das mit einem geheimnisvollen Nimbus umgeben! Aber wenn man in einem hinterwäldlerischen Kaff wie diesem in keine einzige Schublade passt, sind alle gleich ganz aus dem Häuschen. Sogar Arthur Sussman ärgert sich darüber. Warum zum Teufel will sie keinen Telefonsex mit ihm? Wenn man hier in keine Schublade passt, wenn man etwas ist, was ihnen fremd ist, dann quälen sie einen. Niemand in Athena begreift, dass es zu ihrem Bildungsroman gehört, dass sie stets danach gestrebt hat, in keine Schublade zu passen.
    Es gibt ein Komplott, geschmiedet von drei Frauen - einer Philosophieprofessorin, einer Soziologieprofessorin und einer Geschichtsprofessorin -, die ihr besonders auf die Nerven gehen. Voller Feindseligkeit gegen sie, einfach aus dem Grund, dass Delphine nicht so schwerfällig und eingefahren ist wie sie. Weil sie einen gewissen Chic hat, sind sie der Meinung, sie habe nicht genug wissenschaftliche Journale gelesen. Weil ihre amerikanische Vorstellung von Unabhängigkeit sich von Delphines französischer Vorstellung von Unabhängigkeit unterscheidet, ist sie in ihren Augen bloß eine Frau, die sich mächtigen Männern zur Verfügung stellt. Aber was hat sie denn eigentlich getan, um ihr Misstrauen zu wecken? Vielleicht kommt sie zu gut mit den Männern im Fachbereich zurecht. Ja, sie ist mit Arthur Sussman zum Abendessen in Great Barrington gewesen. Heißt das, dass sie sich ihm intellektuell unterlegen fühlt? Sie hat nicht den geringsten Zweifel, dass sie ihm intellektuell ebenbürtig ist. Sie ist nicht geschmeichelt, dass er sie ausführt - sie will hören, was er über Die deutsche Ideologie zu sagen hat. Und hat sie nicht zuvor versucht, mit den dreien zu Mittag zu essen, und war die Reaktion der Frauen an Herablassung noch zu überbieten? Natürlich bemühen sie sich nicht, ihre wissenschaftlichen Artikel lesen. Keine von ihnen liest irgendetwas, was sie geschrieben hat. Es hat einzig und allein mit Wahrnehmung zu tun. Sie sehen nur, dass Delphine das, was sie, wie ihr zu Ohren gekommen ist, sarkastisch »ihre kleine französische Aura« zu nennen belieben, bei allen festangestellten Professoren einsetzt. Dennoch ist sie sehr versucht, diesen drei Intrigantinnen entgegenzukommen und ihnen mehr oder weniger offen zu sagen, dass sie ihre französische Aura gar nicht mag - wenn es so wäre, würde sie in Frankreich leben! Und sie meldet keine Besitzansprüche auf die festangestellten Professoren an - sie meldet keine Besitzansprüche auf irgendjemanden an. Warum sollte sie sonst hier sein, ganz allein, der einzige Mensch, der um zehn Uhr abends noch an seinem Schreibtisch in Barton Hall sitzt? Es vergeht kaum eine Woche, in der sie es nicht noch einmal mit diesen dreien versucht und scheitert, mit diesen Nervensägen, die sie am meisten aus der Fassung bringen, denen sie aber weder mit Charme noch mit Finesse oder auf irgendeine andere Weise näherkommen kann. » Les Trois Grâces « nennt sie sie in ihren Briefen nach Paris, wobei sie grâces boshaft grasses schreibt. Die drei Speckschwarten. Bei bestimmten Partys - Partys, auf die Delphine nicht unbedingt Lust hat - sind Les Trois Grasses immer anwesend. Wenn irgendeine berühmte feministische Intellektuelle zu Gast ist, würde Delphine gern wenigstens eingeladen werden, doch diese Einladung kommt nie. Sie darf zum Vortrag kommen, nicht aber zum anschließenden Essen. Doch das teuflische Trio, das hier den Ton angibt, ist stets dabei.
    In ihrer unvollkommenen Auflehnung gegen ihr französisches Wesen (von dem sie zugleich geradezu besessen ist), ihrem Land (wenn nicht gar sich selbst) freiwillig entrückt, so irritiert durch die

Weitere Kostenlose Bücher