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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Fehler, und dann übersieht sie, unaufmerksam, aufgewühlt und emotional in Anspruch genommen, wie sie ist, dass sie nicht auf »Löschen« klickt, sondern dem ersten winzigen, geläufigen Fehler einen zweiten winzigen, geläufigen Fehler hinzufügt, indem sie stattdessen auf »Versenden« klickt. Und schon ist das Inserat, in dem eine Kopie oder ein Faksimile von Coleman Silk gesucht wird, verschickt, unwiderruflich verschickt, allerdings nicht an die Anzeigenannahme der New York Review of Books, sondern an alle Mitglieder ihres Fachbereichs.
    Es war nach ein Uhr morgens, als das Telefon läutete. Sie war längst aus ihrem Büro geflohen - ihr einziger Gedanke war gewesen, ihren Pass zu holen und außer Landes zu fliehen -, und es war bereits mehrere Stunden nach ihrer normalen Zubettgehzeit, als das Telefon läutete und sie die Nachricht erfuhr. Dass das Inserat unabsichtlich als E-Mail an ihre Kolleginnen und Kollegen geschickt worden war, quälte sie so, dass sie noch immer wach war und in ihrer Wohnung auf und ab ging, sich die Haare raufte, vor dem Spiegel Gesichter schnitt, ihren Kopf über den Küchentisch beugte, in ihre Hände weinte und, als wäre sie aus dem Schlaf geschreckt - dem Schlaf eines bisher sorgsam gehüteten Erwachsenenlebens -, aufsprang und rief: »Es ist nicht geschehen! Ich habe es nicht getan!« Aber wer dann? In der Vergangenheit hatte es, wie es schien, immer Menschen gegeben, die sich nach Kräften bemüht hatten, sie niederzutrampeln und sich des Ärgernisses, das Delphine für sie darstellte, irgendwie zu entledigen, gefühllose Menschen, deren sich zu erwehren sie durch bittere Erfahrung gelernt hatte. Doch heute Nacht gab es niemanden, dem sie die Schuld geben konnte: Ihre eigene Hand hatte den vernichtenden Schlag geführt.
    Hektisch und in wilder Aufregung versuchte sie, eine Möglichkeit zu finden, irgendeine Möglichkeit, das Schlimmste zu verhüten, aber in ihrem Zustand ungläubiger Verzweiflung konnte sie sich nur die Unvermeidlichkeit der katastrophalsten Entwicklung vorstellen: Die Stunden vergehen, der Tag bricht an, die Türen von Barton Hall öffnen sich, ihre Kolleginnen und Kollegen betreten ihre Büros, starten ihre Computer und finden etwas, was sie sich zusammen mit ihrem Morgenkaffee zu Gemüte führen können, nämlich das Inserat, in dem ein Doppelgänger von Coleman Silk gesucht wird, in einer E-Mail, die sie nie hat versenden wollen. Alle Mitglieder des Fachbereichs werden die Nachricht ein-, zwei-, dreimal lesen und sie dann an jeden Dozenten, Professor, Abteilungsleiter, Verwaltungsangestellten und Studenten weiterleiten.
    Alle Studenten in ihren Seminaren werden sie lesen. Ihre Sekretärin wird sie lesen. Bevor der Tag vorüber ist, werden auch der Kanzler und die Kuratoren sie gelesen haben. Und selbst wenn sie behaupten sollte, das Ganze sei ein Witz, nichts weiter als ein Insiderwitz - warum sollten die Kuratoren derjenigen, die diesen Witz in die Welt gesetzt hatte, erlauben, in Athena zu bleiben? Besonders nachdem er in der Studentenzeitung abgedruckt worden ist, wie es ganz sicher geschehen wird. Und in der örtlichen Tageszeitung. Und nachdem die französischen Zeitungen Wind davon bekommen haben.
    Ihre Mutter! Welche Demütigung für ihre Mutter! Und ihr Vater! Welche Enttäuschung für ihn! All die angepassten Walincourt-Cousinen und -Cousins - wie sie sich an ihrem Fiasko weiden werden! All die lächerlich konservativen Onkel und lächerlich frommen Tanten, die mit vereinten Kräften die Enge der Vergangenheit bewahren - welche Genugtuung sie empfinden werden, wenn sie blasiert nebeneinander in der Kirche sitzen! Aber angenommen, sie erklärt, sie habe lediglich mit dem Inserat als literarischer Form experimentiert und, allein in ihrem Büro, ohne Ziel und Absicht mit der Kontaktanzeige als... militaristischem Haiku gespielt. Nein, das wird nichts nutzen. Zu lächerlich. Nichts wird nutzen. Ihre Mutter, ihr Vater, ihre Brüder, ihre Freunde, ihre Lehrer. Yale. Yale! Die Nachricht von dem Skandal wird jeden erreichen, den sie kennt, und die Schande wird sie unaufhörlich verfolgen. Wohin kann sie ohne ihren Pass überhaupt fliehen? Montreal? Martinique? Und womit soll sie dort Geld verdienen? Nein, nicht mal im letzten Außenposten der frankofonen Welt wird sie noch unterrichten dürfen, wenn sich die Sache mit dem Inserat bis dahin herumgesprochen hat. Das reine, prestigeträchtige Berufsleben, für das sie all dieses Planen, all diese harte

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