Der menschliche Makel
Jahrzehnte, und jeder Handschuh ist größer als sein Gesicht. Das ergibt das unterschwellige Bild eines Jungen mit drei Köpfen. Ich bin Boxer, verkündet diese drohende Pose forsch, ich haue sie nicht um - ich zerlege sie. Ich deklassiere sie so lange, bis sie aufhören zu kämpfen. Unverkennbar der Bruder, den sie Mr. Entschlossen genannt hatte, und tatsächlich stand auf der Rückseite des Fotos »Mr. Entschlossen«, geschrieben mit blassblauer Füllfederhaltertinte und in einer Mädchenschrift, die wohl die Ernestines gewesen war.
Sie ist auch nicht ohne, dachte ich, fand einen durchsichtigen Plastikrahmen für den jugendlichen Boxer und stellte ihn auf meinen Schreibtisch. In dieser Familie hatte die Kühnheit nicht mit Coleman begonnen oder aufgehört. Es ist ein kühnes Geschenk, dachte ich, von einer täuschend kühnen Frau. Ich fragte mich, welche Absicht sie damit verfolgte, dass sie mich in ihr Haus einlud. Ich fragte mich, welche Absicht ich damit verfolgte, dass ich die Einladung annahm. Seltsam, dass Colemans Schwester und ich so viel Gefallen aneinander gefunden hatten - seltsam allerdings nur, wenn man daran dachte, dass alles an Coleman zehn-, zwanzig-, hunderttausendmal seltsamer gewesen war.
Ernestines Einladung und das Foto von Coleman - so kam es, dass ich mich an dem ersten Februarsonntag, nachdem der Senat beschlossen hatte, Bill Clinton nicht seines Amtes zu entheben, auf den Weg nach East Orange machte, und zwar auf einer wenig befahrenen Bergstraße, die ich für meine normalen Besorgungen nie nehme und nur als Abkürzung zur Route 7 benutze. Und so kam es, dass ich am Rand eines großen Feldes, an dem ich normalerweise einfach vorbeigerauscht wäre, den heruntergekommenen grauen Pick-up mit dem »Denkt an die Kriegsgefangenen und Vermissten«-Aufkleber sah, der, da war ich sicher, Les Farley gehörte. Ich sah den Pick-up, wusste irgendwie, dass es seiner war, und blieb stehen - ich konnte nicht einfach weiterfahren, ich konnte nicht seine Anwesenheit bemerken und meinen Weg einfach fortsetzen. Ich fuhr im Rückwärtsgang, bis mein Wagen vor seinem stand, und parkte am Straßenrand.
Wahrscheinlich konnte ich selbst nicht ganz glauben, dass ich tatsächlich tat, was ich tat - wie hätte ich es sonst tun können? -, doch seit drei Monaten war mir Colemans Leben näher als mein eigenes, und daher war es unvorstellbar, dass ich irgendwo anders sein konnte als hier, in der Kälte, auf diesem Berg, wo ich die behandschuhte Hand auf die Kühlerhaube des Fahrzeugs legte, das auf der falschen Straßenseite gefahren war, sodass Coleman hatte ausweichen müssen und, Faunia auf dem Beifahrersitz, am Vorabend seines zweiundsiebzigsten Geburtstags mit seinem Wagen die Leitplanke durchbrochen hatte und in den Fluss gestürzt war. Wenn das die Tatwaffe war, dann konnte der Täter nicht weit sein.
Als mir bewusst wurde, worauf ich zusteuerte, und wieder einmal daran dachte, wie überraschend es war, dass Ernestine mir geschrieben hatte, dass sie mich eingeladen hatte, um Walter kennenzulernen, und dass ich den ganzen Tag und oft bis in die Nacht hinein über jemanden nachdachte, den ich nicht einmal ein Jahr lang gekannt hatte und der gewiss nicht mein bester Freund gewesen war, erschien mir der Gang der Ereignisse ganz logisch. Solche Dinge geschehen, wenn man Bücher schreibt. Es gibt nicht nur etwas, was einen dazu treibt, alles herauszufinden - es gibt auch etwas, was einem alles Mögliche vor die Füße legt. Mit einmal gibt es keine abgelegene Straße mehr, die einen nicht geradewegs zu dem Ding führt, von dem man besessen ist.
Und so tut man eben, was ich tat. Coleman, Coleman, Coleman - du, der du jetzt niemand mehr bist, bestimmst über mein Leben. Natürlich konntest du das Buch nicht schreiben. Du hattest es schon geschrieben - dein Buch war dein Leben. Etwas Persönliches zu schreiben bedeutet, dass man enthüllt und zugleich verbirgt, doch in deinem Fall wäre alles, was du geschrieben hättest, nur ein Verbergen gewesen, und das hätte nie funktioniert. Dein Leben war dein Buch - und deine Kunst? Sobald du das alles in Bewegung gesetzt hattest, bestand deine Kunst darin, ein Weißer zu sein. Oder, um es mit deinem Bruder zu sagen: »weißer zu sein als die Weißen.« Das war deine einzigartige kreative Tat: Du bist jeden Morgen aufgewacht, um zu sein, was du aus dir selbst gemacht hattest.
Es lag kaum noch Schnee, nur noch in kümmerlichen Streifen überzog er das stoppelige Feld wie
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