Der menschliche Makel
Leben verbracht hatte, seine Ehefrau. Warum Faunia? Da es menschlich ist, Geheimnisse zu haben, ist es auch menschlich, sie früher oder später jemandem zu enthüllen. Sie sogar, wie in diesem Fall, einer Frau zu enthüllen, die keine Fragen stellt und, so sollte man meinen, für einen Mann mit einem solchen Geheimnis ein regelrechtes Geschenk wäre. Sogar ihr - besonders ihr. Denn dass sie keine Fragen stellt, liegt nicht daran, dass sie dumm ist oder den Dingen ausweichen will; dass sie keine Fragen stellt, hat für Coleman etwas mit ihrer zerstörten Würde zu tun.
»Ich gebe zu, dass ich mich in einigen Punkten täuschen kann«, sagte ich zu meinem gänzlich verwandelten Freund. »Ich gebe zu, dass ich mich in allen Punkten täuschen kann. Aber fangen wir trotzdem mal an: Als du versucht hast, herauszufinden, ob sie mal auf den Strich gegangen ist... als du versucht hast, ihr Geheimnis zu ergründen ...« Da draußen, an seinem Grab, wo alles, was er je gewesen war, allein schon durch das Gewicht und die Masse der aufgehäuften Erde ausgelöscht war, wartete und wartete ich darauf, dass er sprach, bis ich schließlich hörte, wie er Faunia fragte, was die schlimmste Arbeit gewesen sei, die sie je gemacht habe. Dann wartete ich noch ein wenig, bis ich nach und nach den forschen Klang ihrer freimütigen Worte vernahm. Und so hat all dies begonnen: Ich stand in der Abenddämmerung allein auf einem Friedhof und ließ mich auf einen beruflichen Wettkampf mit dem Tod ein.
»Nach den Kindern, nach dem Brand«, hörte ich Faunia zu ihm sagen, »hab ich jeden Job genommen, den ich kriegen konnte. Ich wusste damals nicht, was ich tat. Ich war wie in einem Nebel. Na ja, und da war dieser Selbstmord«, sagte Faunia. »Da oben, im Wald, hinter Blackwell. Mit einer Schrotflinte. Vogelschrot. Die Leiche hatten sie schon weggeschafft. Eine Frau, die ich kannte, eine Trinkerin, Sissie, rief mich an und fragte, ob ich ihr helfen könnte. Sie sollte da rauffahren und das Haus putzen. ›Das klingt jetzt bestimmt komisch‹, sagt Sissie, ›aber ich weiß, du kannst was vertragen und kommst damit klar. Kannst du mir bei dem Job helfen?‹ Ein Mann und eine Frau hatten da gelebt und ihre Kinder, und sie hatten einen Streit, und er geht nach nebenan und bläst sich das Hirn raus. ›Ich soll da hinfahren und putzen‹, sagt Sissie, also bin ich mitgefahren. Der Geruch des Todes. Daran kann ich mich erinnern. Metallisch. Blut. Der Geruch. Er kam erst richtig raus, als wir anfingen zu putzen. Als das warme Wasser mit dem Blut in Berührung kam, ging's erst richtig los. Das Haus war eine Blockhütte. Überall auf den Wänden Blut. Bum, und er klebt überall an den Wänden, auf allem. Und als wir uns mit warmem Wasser und Putzmittel daranmachten ... Mann! Ich hatte Gummihandschuhe, und ich musste mir eine Maske aufsetzen, weil nicht mal ich das noch ausgehalten hab. Blutverklebte Knochensplitter an den Wänden. Er hatte sich den Lauf in den Mund gesteckt. Bum. Da fliegen dann Knochen und Zähne durch die Gegend. Man konnte es geradezu sehen. Es war alles da. Ich weiß noch, dass ich Sissie angesehen hab. Ich hab sie angesehen, und sie hat den Kopf geschüttelt. ›Warum tun wir uns das für irgendein Geld an?‹ Wir haben den Job so gut wir konnten erledigt. Hundert Dollar die Stunde. Was, finde ich, noch immer viel zu wenig war.«
»Was wäre denn ein fairer Preis gewesen?«, hörte ich Coleman Faunia fragen.
»Tausend. Sie hätten das verdammte Ding verbrennen sollen. Es gab keinen fairen Preis. Sissie ging raus, sie packte das nicht mehr. Aber ich, zwei Kinder tot, der verrückte Lester folgt mir Tag und Nacht überallhin - was soll's? Ich fing an herumzuschnüffeln. So kann ich nämlich auch sein. Ich wollte wissen, warum der Typ das getan hatte. Das hat mich immer fasziniert. Warum Leute sich umbringen. Warum es Massenmörder gibt. Der Tod im allgemeinen. Einfach faszinierend. Ich hab mir die Fotos angesehen. Ob da irgendein Glück war. Ich hab mir alles angesehen. Bis ich zum Medizinschrank kam. Die Tabletten. Die Flaschen. Da war kein Glück. Seine kleine Hausapotheke. Ich schätze, irgendwelche Psychiatriemittel. Zeug, das er hätte nehmen sollen und nicht genommen hat. Man sah, dass er versucht hatte, Hilfe zu kriegen, aber er hatte es nicht geschafft. Er hatte es nicht geschafft, seine Tabletten zu nehmen.«
»Woher weißt du das?«, fragte Coleman.
»Ich stelle es mir vor. Ich weiß es nicht. Das ist meine eigene
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