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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Geschichte. Das ist meine Geschichte.«
    »Vielleicht hat er das Zeug genommen und sich trotzdem umgebracht.«
    »Kann sein«, sagte sie. »Das Blut. Blut klebt. Vom Boden kriegte man es überhaupt nicht ab. Ein Tuch nach dem anderen. Die Farbe ging nicht weg. Nach und nach wurde es lachsfarben, aber es ging nicht ganz weg. Wie etwas, das noch lebendig war. Die schärfsten Industrieputzmittel - keine Chance. Metallisch. Süßlich. Ekelerregend. Ich hab nicht gekotzt. Ich hab an was anderes gedacht. Aber ich war nah dran.«
    »Wie lange habt ihr gebraucht?«, fragte er sie.
    »Wir waren ungefähr fünf Stunden dort. Ich spielte Amateurdetektivin. Er war Mitte Dreißig. Ich weiß nicht, was er war. Verkäufer oder so. So ein Waldtyp. Bergtyp. Dichter Bart. Buschiges Haar. Sie war zierlich. Nettes Gesicht. Helle
    Haut. Dunkle Haare. Dunkle Augen. Ein Mäuschen. Verschüchtert. Das war nur das, was die Fotos mir sagten. Er war der große, starke Bergtyp, und sie war ein kleines Mäuschen. Ich weiß es nicht. Aber ich will es wissen. Ich war eine auf sich selbst gestellte Minderjährige. Hatte die Schule abgebrochen. Ich konnte nicht mehr zur Schule gehen. Abgesehen von allem anderen hat sie mich gelangweilt. Und all dieses wirkliche Zeug passierte in den Häusern von irgendwelchen Leuten. Verdammt, sogar in meinem Haus. Wie konnte ich in die Schule gehen und lernen, wie die Hauptstadt von Nebraska heißt? Ich wollte es wissen. Ich wollte rausgehen und mir alles ansehen. Darum bin ich nach Florida gegangen, und darum bin ich in allen möglichen Gegenden gelandet, und darum hab ich in diesem Haus herumgeschnüffelt. Nur um mir alles anzusehen. Ich wollte das Schlimmste kennen. Was ist das Schlimmste? Weißt du es? Sie war dabei, als er es getan hat. Als wir kamen, war sie in einer psychiatrischen Klinik.«
    »War das das Schlimmste, was du je hast tun müssen? Die schlimmste Arbeit, die du je gemacht hast?«
    »Krass. Ja. Ich hab viel gesehen. Aber das - es war nicht einfach bloß krass. Und andererseits war es faszinierend. Ich wollte wissen, warum.«
    Sie wollte wissen, was das Schlimmste war. Nicht das Beste, sondern das Schlimmste. Und damit meinte sie die Wahrheit. Was ist die Wahrheit? Also sagte er es ihr. Die erste Frau seit Ellie, die es erfuhr. Weil er sie in diesem Augenblick liebte und sich vorstellte, wie sie das Blut weggeschrubbt hatte. Er fühlte sich ihr so nah wie nie zuvor. Konnte es sein? Coleman hatte sich noch nie irgendjemandem so nah gefühlt! Er liebte sie. Denn das ist es, was die Liebe weckt: wenn man sieht, dass jemand angesichts des Schlimmsten bereit ist, sich darauf einzulassen. Nicht mutig. Nicht heldenhaft. Nur bereit, sich darauf einzulassen. Er hatte keine Vorbehalte gegen sie. Keinen einzigen. Es war jenseits von Denken und Berechnung.
    Es war instinktiv. In ein paar Stunden mochte es sich als ein sehr großer Fehler erweisen, doch in diesem Augenblick, nein. Er vertraut ihr, das ist es. Er vertraut ihr: Sie hat das Blut vom Boden geschrubbt. Sie ist nicht religiös, sie ist nicht scheinheilig, sie ist - ganz gleich, wie entstellt sie durch ihre anderen Verirrungen sein mag - nicht vom Märchen von der Reinheit befleckt. Sie hat kein Interesse daran, zu urteilen; für solchen Blödsinn hat sie zu viel gesehen. Egal, was ich sage, sie wird nicht davonlaufen wie Steena. »Was würdest du denken«, fragte er sie, »wenn ich dir sagen würde, dass ich kein Weißer bin?«
    Zunächst sah sie ihn nur an, und wenn sie verblüfft war, dann war sie es nur eine Sekunde lang, nicht länger. Dann begann sie zu lachen, sie brach in das Gelächter aus, das ihr Markenzeichen war. »Was ich denken würde? Ich würde denken, du erzählst mir was, was ich schon längst rausgefunden hab.«
    »Das stimmt nicht.«
    »Ach nein? Ich weiß, wer du bist. Ich hab im Süden gelebt. Ich hab sie alle kennengelernt. Klar weiß ich Bescheid. Warum sollte ich dich sonst so gern haben? Weil du ein Collegeprofessor bist? Wenn das alles wäre, was du bist, würde ich verrückt werden.«
    »Ich glaube dir nicht, Faunia.«
    »Dann lass es bleiben«, sagte sie. »Bist du fertig mit dem Verhör?«
    »Was für ein Verhör?«
    »Über die schlimmste Arbeit, die ich je gemacht habe.«
    »Ja«, sagte er. Und dann wartete er auf ihr Verhör darüber, dass er kein Weißer war. Doch es kam nie. Es schien sie nicht sonderlich zu interessieren. Und sie lief nicht davon. Als er ihr alles erzählte, hörte sie zu, aber nicht, weil sie

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