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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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die ganze Geschichte bizarr oder unglaublich oder auch nur seltsam fand - und ganz gewiss nicht verwerflich. Nein. Für Faunia klang sie nach Leben.
    Im Februar bekam ich einen Anruf von Ernestine, vielleicht, weil gerade Black History Month war und sie daran gedacht hatte, dass sie mir hatte erklären müssen, wer Matthew Henson und Dr. Charles Drew gewesen waren. Vielleicht fand sie, es sei an der Zeit, mein Wissen in Rassenfragen zu vertiefen, unter besonderer Berücksichtigung all der Dinge, von denen Coleman sich losgesagt hatte, jener randvollen, fix und fertigen East-Orange-Welt, zehn Quadratkilometer, prallvoll mit den eindrucksvollsten kreatürlichen Einzelheiten, das solide, lyrische Fundament einer erfolgreichen Kindheit, all die Sicherheiten, die Bündnisse, die Schlachten, die selbstverständliche Rechtmäßigkeit, und daran ist nichts Theoretisches, nichts Trügerisches oder Illusorisches - all diese herrlichen Zutaten des glücklichen, von Erregung und gesundem Menschenverstand durchdrungenen Anfangs, den ihr Bruder Coleman vollkommen ausgeblendet hatte.
    Nachdem sie mir erzählt hatte, dass Walter Silk und seine Frau am nächsten Sonntag aus Asbury Park kommen würden, sagte sie mir zu meiner Überraschung, ich sei, wenn ich die Fahrt nach Jersey auf mich nehmen wolle, herzlich zum Sonntagabendessen eingeladen. »Sie wollten doch Walt kennenlernen. Und ich dachte, Sie wollten sich vielleicht das Haus ansehen. Und Fotoalben. Und Colemans Zimmer, wo Coleman und Walt geschlafen haben. Das Stockbett steht noch da. Später war es das Zimmer meines Sohnes, aber das Bettgestell aus Ahornholz ist noch da.«
    Ich war eingeladen, den Reichtum der Familie Silk zu sehen, den Coleman wie eine abgestreifte Fessel über Bord geworfen hatte, um in einer Sphäre leben zu können, die seinem Gefühl für die Größenordnung seines Lebens mehr entsprach, um ein anderer zu werden, jemand, der ihm passte, und um sein Schicksal zu gestalten, indem er sich etwas anderem unterwarf. Er hatte alles über Bord geworfen, das ganze verästelte Negerzeug, weil er gedacht hatte, er könne es auf keine andere Art loswerden. So viel Sehnsucht, so viel Planen, so viel Leidenschaft und Raffinesse und Verstellung, und das alles nährte nur den Wunsch, aus dem Haus zu gehen und verwandelt zu werden.
    Ein neues Wesen zu werden. Sich zu teilen. Das Drama hinter der amerikanischen Geschichte, das große Drama, das der Aufbruch und das Fortgehen ist - und die Energie und die Grausamkeit, die dieser verzückte Drang erfordert.
    »Ich komme gern«, sagte ich.
    »Ich garantiere für nichts«, sagte sie. »Aber Sie sind ja ein erwachsener Mann. Sie können selbst auf sich aufpassen.«
    Ich lachte. »Was sagen Sie da?«
    »Walter geht zwar auf die Achtzig zu, aber er ist immer noch ein großer, fauchender Ofen. Was er zu sagen hat, wird Ihnen nicht gefallen.«
    »Über Weiße?«
    »Über Coleman. Über den berechnenden Lügner. Über den herzlosen Sohn. Über den Verräter an seiner Rasse.«
    »Sie haben ihm gesagt, dass er tot ist.«
    »Ich habe mich dazu entschlossen. Ja, ich habe es Walter gesagt. Wir sind eine Familie. Ich habe ihm alles erzählt.«
    Wenige Tage später erhielt ich per Post ein Foto und eine Notiz von Ernestine: »Ich bin auf das hier gestoßen und dachte an unsere Begegnung. Bitte behalten Sie es, wenn Sie möchten, als eine Erinnerung an Ihren Freund Coleman Silk.« Es war ein verblasstes Schwarz-Weiß-Foto im Format zehn mal dreizehn, ein vergrößerter Schnappschuss, den höchstwahrscheinlich jemand mit einer Brownie-Boxkamera in irgendeinem Garten gemacht hatte und der Coleman als die Kampfmaschine zeigte, der sein Gegner sich würde stellen müssen, wenn die Glocke erklang. Er konnte nicht älter als Fünfzehn gewesen sein, auch wenn diese fein geschnittenen Gesichtszüge, die den Erwachsenen so sympathisch jungenhaft hatten erscheinen lassen, bei dem Jungen erwachsen und männlich wirkten. Wie ein Profi hat er den knallharten Blick aufgesetzt, den unverwandten Blick des lauernden Raubtiers - alles ist ausgelöscht, bis auf das Verlangen nach Sieg und die ausgefeilte Technik der Zerstörung. Der Blick ist ruhig und fest und dringt aus ihm hervor wie ein Befehl, auch wenn das kantige kleine Kinn fest an die magere Schulter geschmiegt ist. Die Handschuhe sind in der klassischen Grundposition erhoben, bereit zuzuschlagen, als wären sie nicht bloß mit Fäusten geladen, sondern mit der ganzen Wucht seiner eineinhalb

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