Der menschliche Makel
jungen Männer einfanden, um Zeitungen zu lesen und Schach zu spielen. Wer weiß, ob es eine soziologische Erklärung dafür gab, doch was auch immer der Grund sein mochte - es war die große amerikanische Ära aphrodisischer Beine, und mindestens ein- oder zweimal täglich folgte Coleman solchen Beinen mehrere Blocks weit, um sie nur ja nicht aus den Augen zu verlieren und um zu sehen, wie sie sich bewegten und wie sie geformt waren und wie sie in Ruhestellung aussahen, wenn ihre Besitzerin an einer Ecke darauf wartete, dass die Ampel auf Grün umsprang. Und wenn er das Gefühl hatte, der Augenblick sei günstig, und seine Schritte beschleunigte, um sie einzuholen - nachdem er ihr lange genug gefolgt war, um sowohl verbal vorbereitet als auch vor Verlangen fast verrückt zu sein -, wenn er sie dann ansprach und die richtigen Worte gefunden hatte, um sie ein Stück begleiten und sie nach ihrem Namen fragen zu dürfen, und wenn er sie zum Lachen gebracht und es geschafft hatte, sich mit ihr zu verabreden, dann hatte er sich, ob sie es wusste oder nicht, mit ihren Beinen verabredet.
Und den Frauen wiederum gefielen Colemans Beine. Steena Palsson, die Achtzehnjährige aus Minnesota, fern der Heimat, schrieb sogar ein Gedicht über Coleman, in dem sie seine Beine erwähnte. Es war mit der Hand auf einem linierten Blatt aus einem Notizbuch geschrieben und trug die Unterschrift »S«. Das Blatt war zweimal gefaltet und in Colemans Briefkasten in der gefliesten Eingangshalle über seinem Souterrainzimmer gesteckt worden. Vor zwei Wochen hatten sie zum ersten Mal in der U-Bahn miteinander geflirtet, und es war der Montag nach dem Sonntag ihres ersten 24-Stunden-Marathons. Coleman war in Eile zu seinem morgendlichen Seminar gegangen, während Steena sich noch im Badezimmer zurechtmachte; ein paar Minuten später ging sie zur Arbeit, allerdings nicht ohne ihm das Gedicht zu hinterlassen, das sie ihm, trotz der Energie, die sie einander am Vortag so gewissenhaft demonstriert hatten, aus Schüchternheit nicht hatte persönlich geben wollen. Da Coleman an diesem Tag vom Seminar zur Bibliothek und von dort zu einer heruntergekommenen Sporthalle in Chinatown gegangen war, um sein abendliches Training im Ring zu absolvieren, sah er den Zettel mit dem Gedicht erst aus dem Briefschlitz ragen, als er um halb zwölf in die Sullivan Street zurückkehrte.
Er hat einen Körper,
Einen wunderschönen Körper –
Die Muskeln seiner Beine, seines Nackens.
Er ist vier Jahre älter,
Reger und ungestümer,
Und doch erscheint er mir manchmal jünger.
Noch ist er reizend und romantisch,
Auch wenn er sagt, er sei es nicht.
Ich bin beinahe eine Gefahr für diesen Mann.
Wie kann ich sagen,
Was ich in ihm sehe?
Ich frage mich, was er tut,
Wenn er mich verschlungen hat.
Er überflog das Gedicht im trüben Licht der Eingangshalle und las »Neger« anstatt »Reger« - Neger und ungestümer ... Neger und ungestümer? Bis dahin hatte es ihn überrascht, wie leicht es war. Was angeblich schwer und irgendwie beschämend oder zerstörerisch war, erwies sich nicht nur als leicht, sondern hatte auch keinerlei Konsequenzen - er musste keinen Preis dafür bezahlen. Doch jetzt brach ihm mit einmal der Schweiß aus. Er las das Gedicht abermals, schneller noch als zuvor, aber die Worte bildeten keine Kombinationen, die einen Sinn ergaben. Er ist Neger? Sie hatten einen ganzen Tag und eine ganze Nacht miteinander verbracht, nackt, die meiste Zeit nur Zentimeter voneinander entfernt. Seit er ein Kleinkind gewesen war, hatte niemand außer ihm selbst soviel Zeit und Gelegenheit gehabt, eingehend zu studieren, wie er gebaut war. Daraus, dass es nichts an ihrem langen, blassen Körper gab, das er nicht in sich aufgenommen hatte, nichts, das sie verborgen hatte, nichts, das er jetzt nicht mit dem Vorstellungsvermögen eines Malers, mit der erregten, scharf blickenden Kennerschaft eines Liebhabers hätte heraufbeschwören können, und daraus, dass er den ganzen Tag nicht nur durch das Bild ihrer gespreizten Beine vor seinem geistigen Auge, sondern auch ebenso sehr durch ihren Duft in seiner Nase stimuliert worden war, konnte er folgern, dass es nichts an seinem Körper gab, das sie nicht in allen Einzelheiten in sich aufgenommen hatte, nichts an seinem hingestreckten, mit allen Attributen seiner selbstbezogenen evolutionären Einzigartigkeit ausgestatteten Körper, nichts an seiner einmaligen Konfiguration als Mann, nichts an seiner Haut, seinen Poren,
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