Der menschliche Makel
seinen Bartstoppeln, seinen Zähnen, seinen Händen, seiner Nase, seinen Ohren, seinen Lippen, seiner Zunge, seinen Füßen, seinen Eiern, seinen Adern, seinem Schwanz, seinen Achselhöhlen, seinem Hintern, seinen Schamhaaren, seinen Kopfhaaren, seinen Körperhaaren, nichts an der Art, wie er lachte, schlief, atmete, sich bewegte, roch, nichts an der Art, wie er beim Orgasmus zuckte und erschauerte, das sie nicht registriert hatte. Das sie nicht in sich aufgenommen hatte. Über das sie nicht nachgedacht hatte. War es der Akt selbst gewesen, der ihn verraten hatte, die absolute Intimität, wenn man sich nicht einfach im Körper einer Frau befindet, sondern sie einen fest umschließt? Oder war es die körperliche Nacktheit gewesen? Du ziehst deine Kleider aus und gehst mit jemandem ins Bett, und das ist tatsächlich der Ort, wo alles, was du verborgen hast, wo deine Eigenarten - ganz gleich, welcher Art, ganz gleich, wie verborgen - ans Licht kommen, und das ist eben auch der Grund für Schüchternheit, das ist das, was alle fürchten. Wie viel von mir wird an diesem anarchischen, verrückten Ort gesehen, wie viel von mir wird freigelegt? Jetzt weiß ich, wer du bist. Jetzt sehe ich, dass du Neger und ungestümer bist.
Aber wie? Durch was hatte er es offenbart? Was konnte es gewesen sein? War es, was immer es war, für sie sichtbar, weil sie eine blonde dänisch-isländische Frau war, die von einer langen Reihe blonder Dänen und Isländer abstammte, skandinavisch aufgewachsen, zu Hause, in der Schule, in der Kirche, die ihr Leben lang umgeben gewesen war von ... und dann las Coleman, was dort wirklich stand. Sie hatte nicht »Neger« geschrieben, sondern »Reger«. Ach so, reger ! Nur reger! Er ist vier Jahre älter, reger und ungestümer ...
Aber was bedeutete dann das: »Wie viel kann ich verraten von dem, was ich in ihm sehe?« Was war denn an dem, was sie in ihm sah, so dunkel und zweifelhaft? Wäre das, was sie meinte, deutlicher gewesen, wenn sie »Wie lässt sich sagen« geschrieben hätte anstatt »Wie kann ich sagen«? Oder wäre es dann undeutlicher gewesen? Je öfter er diese schlichte Strophe las, desto unklarer erschien ihm ihre Aussage - und je unklarer die Aussage war, desto sicherer war er, dass Steena deutlich spürte, welches Problem Coleman in ihr Leben trug. Es sei denn, sie meinte mit »was ich in ihm sehe« nicht mehr als das, was skeptisch veranlagte Leute zum Ausdruck bringen wollen, wenn sie eine frisch verliebte Freundin fragen: »Was siehst du eigentlich in ihm?«
Und was ist mit »sagen«? Wie viel kann sie wem sagen? Meint sie damit »ausdrücken« - »wie kann ich ausdrücken« usw. - oder meint sie »erzählen, verraten«? Und was soll »Ich bin beinahe eine Gefahr für diesen Mann« heißen? Gibt es einen Unterschied zwischen »Ich bin eine Gefahr« und »Ich bin gefährlich«? Und überhaupt - worin besteht die Gefahr?
Jedes Mal, wenn er versuchte, zu dem, was sie gemeint hatte, durchzudringen, entzog es sich ihm. Nach zwei panischen Minuten in der Eingangshalle war das Einzige, dessen er sich sicher sein konnte, seine Angst. Das erstaunte ihn - und wie immer beschämte ihn seine Empfindlichkeit, weil sie so unverhofft kam, und löste ein Notsignal aus, eine Alarmglocke, die seine Wachsamkeit ermahnte, nicht nachzulassen.
Steena war intelligent und schön und mutig, aber sie war auch erst achtzehn, vor Kurzem aus Fergus Falls, Minnesota, nach New York gekommen. Dennoch schüchterten sie und ihre beinahe widernatürliche, allumfassende Goldenheit ihn jetzt mehr ein als irgendeiner, dem er im Ring gegenübergestanden hatte. Nur in jener Nacht in dem Bordell in Norfolk, als die Frau auf dem Bett - eine großbusige, fleischige, misstrauische Hure, nicht wirklich hässlich, aber gewiss keine Schönheit (und vielleicht selbst zu zwei Fünfunddreißigsteln etwas anderes als weiß) - ihm zusah, wie er sich aus der Uniform schälte, säuerlich lächelte, sagte: »Du bist 'n echter schwarzer Nigger, stimmt's, Jungchen?«, und die beiden Gorillas rief, die ihn dann rausschmissen, nur damals hatte er sich so entlarvt gefühlt wie jetzt durch Steenas Gedicht.
…
Ich frage mich, was er tut,
Wenn er mich verschlungen hat.
Nicht einmal das verstand er. Bis in die frühen Morgenstunden kämpfte er am Schreibtisch in seinem Zimmer mit den paradoxen Implikationen dieser letzten Verse, entdeckte eine komplizierte Gedankenverbindung nach der anderen, nur um sie wieder zu verwerfen, und war sich
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