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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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nach zwei Minuten und ein paar Sekunden flach und war danach nicht einmal erschöpft. Auf dem Weg zum Ring war er am Platz des Promoters Solly Tabak vorbeigekommen, der bereits mit einem Vertrag unter seiner Nase herumfuchtelte, in dem stand, dass Coleman ihm in den nächsten zehn Jahren ein Drittel seiner Einkünfte abtreten würde. Solly hatte ihm einen Klaps auf den Hintern gegeben und ihm mit seiner fetten Stimme zugeflüstert: »Lass den Nigger in der ersten Runde kommen und warte ab, was er drauf hat, Silky, damit die Leute was zu sehen kriegen für ihr Geld.« Coleman nickte Tabak zu und lächelte, aber als er in den Ring stieg, dachte er: Leck mich - ich kriege hundert Dollar und soll mir in die Schnauze hauen lassen, damit die Leute was zu sehen kriegen für ihr Geld? Ich soll mich für den Scheiß interessieren, den irgendein Wichser in der fünfzehnten Reihe von sich gibt? Ich bin eins dreiundsiebzig groß und wiege zweiundsechzigeinhalb Kilo, und er ist eins siebenundsiebzig groß und wiegt fünfundsechzig Kilo, und ich soll mir vier, fünf, zehn Kopftreffer verpassen lassen, bloß damit die Leute was geboten kriegen? Du kannst mich mal.
    Nach dem Kampf war Solly nicht zufrieden mit Colemans Verhalten. Es erschien ihm unreif. »Du hättest den Nigger in der vierten Runde auf die Bretter legen können statt in der ersten - dann hätten die Leute was zu sehen gekriegt für ihr Geld. Hast du aber nicht. Ich bitte dich nett und höflich, und du tust es einfach nicht. Was soll das, du Schlaumeier?«
    »Ich helf doch einem Nigger nicht über die Runden.« Das sagte er, der Student der klassischen Literatur an der NYU, der Jahrgangsbeste an der East Orange Highschool, der Sohn des verstorbenen Optikers, Speisewagenkellners, Amateurlinguisten, Grammatikers, Zuchtmeisters und Shakespeare-Kenners Clarence Silk. So widerspenstig war er, so heimlichtuerisch war er, so ernst meinte er es, ganz gleich, was er in Angriff nahm, dieser farbige Junge von der East Orange High.
    Wegen Steena hörte er auf zu boxen. So sehr er sich auch hinsichtlich der in ihrem Gedicht verborgenen dunklen Bedeutung täuschte, blieb er doch überzeugt, dass die geheimnisvollen Kräfte, die ihrer beider sexuellen Hunger so unstillbar machten - und sie in so zügellose Liebende verwandelten, dass Steena ihn und sich selbst mit der unverfälschten, verwunderten Selbstironie einer Neubekehrten und der Direktheit des Mittleren Westens als »völlig bekloppt« bezeichnete -, eines Tages die Geschichte, die er sich erfunden hatte, vor ihren Augen auflösen würden. Er wusste weder, wie das geschehen würde, noch wie er es verhindern konnte. Aber das Boxen würde ihm nicht helfen. Sobald sie von Silky Silk erfahren hatte, würde sie Fragen stellen, die sie unvermeidlich über die Wahrheit stolpern lassen würden. Sie wusste, dass er eine Mutter in East Orange hatte, die eine geprüfte
    Krankenschwester und regelmäßige Kirchgängerin war, dass er einen älteren Bruder hatte, der seit Kurzem in Asbury Park Siebt- und Achtklässler unterrichtete, und eine Schwester, die demnächst ihr Lehrerstudium am Montclair State College abschließen würde, und dass ihr gemeinsames Bettvergnügen in der Sullivan Street einmal im Monat vorzeitig beendet werden musste, weil Coleman in East Orange zum Abendessen erwartet wurde. Sie wusste, dass sein Vater Optiker gewesen war - nur das: ein Optiker -, und sogar, dass er aus Georgia gestammt hatte. Coleman achtete sorgfältig darauf, dass sie nie Anlass hatte, an seinen Geschichten zu zweifeln, und nachdem er das Boxen ganz aufgegeben hatte, brauchte er ihr auch nichts mehr vorzulügen. Er log Steena nie an, sondern hielt sich nur an die Anweisung, die Doc Chizner ihm damals, als sie nach West Point gefahren waren, gegeben hatte (und die ihn bereits sicher durch die Navy gebracht hatte): Wenn keiner das Thema anschneidet, schneidest du es auch nicht an.
    Wie alle anderen Entscheidungen - selbst die, Solly Tabak in St. Nick's wortlos zu verstehen zu geben, er könne ihn am Arsch lecken, indem er den anderen in der ersten Runde k. o. schlug - basierte seine Entscheidung, sie zum Abendessen nach East Orange einzuladen, einzig und allein auf seinen eigenen Überlegungen. Sie hatten sich beinahe zwei Jahren zuvor kennengelernt, Steena war zwanzig und er selbst vierundzwanzig, und er konnte sich nicht mehr vorstellen, ohne sie durch die Eighth Street, geschweige denn durch den Rest seines Lebens zu gehen. Ihr ruhiges,

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