Der menschliche Makel
bei Tagesanbruch nur einer Sache gewiss: dass für Steena, die hinreißende Steena, nicht alles, was er aus seinem Leben getilgt hatte, für immer verschwunden war.
Völlig falsch. Ihr Gedicht hatte gar nichts zu bedeuten. Es war nicht einmal ein Gedicht. Unter dem Druck ihrer eigenen Verwirrung waren ihr, während sie unter der Dusche stand, Ideenfragmente und unbearbeitete Gedankenfetzen vollkommen ungeordnet durch den Kopf gepoltert, und so hatte sie ein Blatt aus einem seiner Notizbücher gerissen, die Einfalle, die zu Wörtern gerannen, darauf gekritzelt und den Zettel in seinen Briefkasten gesteckt, bevor sie zur Arbeit geeilt war. Diese Zeilen waren bloß etwas, was sie getan hatte - was sie hatte tun müssen -, weil die erregende Neuheit ihrer Verwunderung sie dazu getrieben hatte. Eine Dichterin? Sie lachte: wohl kaum. Eher jemand, der durch einen brennenden Reifen gesprungen war.
Über ein Jahr lang verbrachten sie jedes Wochenende in seinem Bett und nährten sich voneinander wie Gefangene in Einzelhaft, die gierig ihre tägliche Ration Wasser und Brot verschlangen. Sie überraschte ihn - überraschte sich selbst -, indem sie eines Samstagsabends nur mit ihrem Slip bekleidet am Fußende des Klappsofas tanzte. Sie war dabei, sich auszuziehen, das Radio war eingeschaltet - Symphony Sid -, und um sie in Bewegung und in Stimmung zu bringen, kam als erstes eine wilde Liveaufnahme von Count Basie und ein paar Jazzmusikern, die eine Improvisation über »Lady Be Good« spielten, und dann noch mehr von Gershwin, nämlich die Artie-Shaw-Version von »The Man I Love«, bei der Roy Eldridge mächtig aufdrehte. Coleman lag halb aufgerichtet im Bett und tat, was er samstags abends, wenn sie von ihrem Fünf-Dollar-Menü aus Chianti, Spaghetti und Cannelloni in ihrem Lieblingskellerrestaurant in der Fourteenth Street zurück waren, am liebsten tat: ihr zusehen, wie sie sich auszog. Mit einmal und ohne dass er sie dazu aufgefordert hätte - die Aufforderung schien eher von Eldridges Trompete zu kommen -, begann sie, was Coleman gern als den schlüpfrigsten Tanz bezeichnete, den je ein Mädchen aus Fergus Falls, das erst wenig länger als ein Jahr in New York war, getanzt hatte. Mit diesem Tanz und der Art, wie sie sang, hätte sie Gershwin aus dem Grab auferstehen lassen können. Sie ließ sich antreiben von einem farbigen Trompeter, der das Lied spielte, als wäre es eine Negerschnulze, und da war sie, klar und deutlich: die ganze Macht ihrer Weisheit. Das große weiße Ding. »Some day he'll come along ... the man I love ... and he'll be big and strong ... the man I love.« Sprachlich war das so gewöhnlich, dass es aus einer harmlosen Schulfibel hätte stammen können, doch als das Stück vorbei war, schlug Steena halb spielerisch, halb ernst gemeint die Hände vor das Gesicht, um ihre Scham zu verbergen. Und doch schützte diese Geste sie vor gar nichts, am allerwenigsten vor seinem Entzücken - sie erregte ihn nur noch mehr. »Wo habe ich dich gefunden, Voluptas?«, fragte er. » Wie habe ich dich gefunden? Wer bist du?«
In dieser berauschenden Zeit gab Coleman sein abendliches Training in der Sporthalle in Chinatown auf, schränkte sein frühmorgendliches Lauftraining über acht Kilometer ein und verzichtete darauf, den Gedanken, er sei Profiboxer, in irgendeiner Weise ernst zu nehmen. Er war bei vier bezahlten Kämpfen angetreten und hatte alle gewonnen - drei über vier Runden und einen, den letzten, über sechs Runden, allesamt Montagabendkämpfe in der alten St.-Nicholas-Arena. Er erzählte weder Steena noch sonst irgendjemandem an der NYU davon, und ganz gewiss niemandem von seiner Familie. In diesen ersten Jahren auf dem College war das ein weiteres Geheimnis, auch wenn er unter dem Namen Silky Silk antrat und die Ergebnisse der Kämpfe in St. Nick's am nächsten Tag kleingedruckt in einem Kasten auf der Sportseite der Boulevardzeitungen standen. Von der ersten Sekunde der ersten Runde des ersten 35-Dollar-Kampfs über vier Runden an war seine Einstellung vollkommen anders als in seiner Amateurzeit. Nicht dass er als Amateur jemals hatte verlieren wollen. Doch als Profi teilte er doppelt so entschlossen aus, und sei es nur, um sich zu beweisen, dass er sich dort halten konnte, wenn er wollte. Keiner der Kämpfe ging über die volle Distanz, und im letzten, für den er hundert Dollar bekam und der über sechs Runden gehen sollte - bei einem Turnier, in dem Beau Jack der Star war -, legte er seinen Gegner
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