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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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nicht besser. Besonders als ihm der Gedanke kam, dass er selbst in den Augen der anderen Studenten in seinem Wohnheim etwas von einem Nigger an sich hatte, in den Augen dieser jungen Männer, die jede Menge neue Sachen hatten, die Geld in der Tasche hatten und die im Sommer nicht auf den heißen Straßen ihrer Heimatstädte herumhingen, sondern in Camps fuhren - und das waren keine Pfadfindercamps irgendwo im Hinterland von New Jersey, sondern schicke Ferienklubs, wo sie auf Pferden ritten und Tennis spielten und Theaterstücke aufführten. Was zum Teufel war eigentlich ein »Kotillon«? Wo lag Highland Beach? Wovon redeten diese Typen überhaupt? Coleman gehörte zu den hellhäutigsten der Hellhäutigen unter den Studienanfängern und war sogar noch heller als sein teefarbener Zimmergenosse, doch gemessen an dem, was diese anderen wussten und kannten, hätte er ebenso gut der schwärzeste, ungebildetste Feldnigger sein können. Er hasste Howard vom ersten Tag an, und es dauerte keine Woche, bis er Washington hasste. Als sein Vater Anfang Oktober, gerade als der Zug der Pennsylvania Railroad nach Wilmington den Bahnhof an der 30th Street in Philadelphia verließ, beim Servieren des Mittagessens im Speisewagen tot umfiel und Coleman zur Beerdigung nach Hause fuhr, sagte er seiner Mutter, er werde das College verlassen. Sie beschwor ihn, nichts Übereiltes zu tun, und sagte, sie sei sicher, dass es in Howard auch Jungen aus ähnlich bescheidenen Verhältnissen wie den seinen gebe, Stipendiaten wie ihn, mit denen er sich anfreunden könne, doch nichts von dem, was sie vorbrachte, wie wahr es auch sein mochte, konnte ihn umstimmen. Wenn er einmal einen Entschluss gefasst hatte, gab es nur zwei Menschen, die ihn umstimmen konnten - seinen Vater und Walt -, und selbst die mussten dazu beinahe seinen Willen brechen. Doch Walt war als Soldat der U. S. Army in Italien, und der Vater, den Coleman besänftigen musste, indem er tat, was dieser ihm sagte, war nicht mehr imstande, ihm mit volltönender Stimme irgendetwas vorzuschreiben.
    Natürlich weinte er bei der Beerdigung, und natürlich wusste er, wie gewaltig das war, was ihm ohne Vorwarnung genommen worden war. Als der Pfarrer nach dem ganzen biblischen Zeug den vom Vater so geschätzten Band mit Shakespeare-Dramen zur Hand nahm - das großformatige Buch mit dem weichen Ledereinband, das Coleman als Kind immer an einen Cockerspaniel erinnert hatte - und eine Passage aus Julius Cäsar vorlas, spürte der Sohn die Majestät seines Vaters wie nie zuvor: die Größe seines Aufstiegs und Falls, eine Größe, deren Ausmaß Coleman, der Studienanfänger, der die winzige Welt von East Orange vor kaum einen Monat verlassen hatte, gerade erst zu erahnen begann.

    Feiglinge sterben vielmals, eh sie sterben,
    Der Tapfere kostet einmal nur den Tod.
    Von allen Wundern, die ich je gehört,
    Scheint mir das größte, dass sich Menschen fürchten,
    Da sie doch sehn, der Tod, das Schicksal aller,
    Kommt, wann er kommen will.
    Als der Pfarrer »der Tapfere« sagte, brach Colemans mannhaftes Bemühen um sachliche, stoische Selbstbeherrschung in sich zusammen und enthüllte eine kindliche Sehnsucht nach dem Mann, der ihm am nächsten gestanden hatte und den er nie wiedersehen würde, nach diesem alles überragenden, insgeheim leidenden Vater, der so leicht, so mitreißend hatte reden können und der mit seiner Wortgewalt Coleman unbeabsichtigt den Wunsch eingegeben hatte, Gewaltiges zu vollbringen. Die grundlegendste und ergiebigste aller Emotionen ließ Colemans Tränen fließen und warf ihn, ohne dass er etwas dagegen hätte tun können, auf alles zurück, was er nicht ertragen konnte. Wenn er sich als Jugendlicher bei Freunden über seinen Vater beklagt hatte, dann hatte er ihn mit viel mehr Geringschätzung beschrieben, als er empfand oder empfinden konnte: So zu tun, als könne er seinen eigenen Vater ganz sachlich beurteilen, war eine weitere Methode gewesen, Ungerührtheit zu erfinden und zu behaupten. Nun, da sein Vater ihn nicht mehr einschränkte und begrenzte, war es, als wären alle Uhren, die er sah, stehen geblieben, als gäbe es keine Möglichkeit festzustellen, wie spät es war. Bis zu dem Tag, an dem er in Washington eintraf und sich an der Howard University einschrieb, war es - ob ihm das nun gefiel oder nicht - sein Vater gewesen, der Colemans Geschichte für ihn erfunden hatte; von nun an würde er sie selbst erfinden müssen, und diese Aussicht war entsetzlich. Und auch

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