Der menschliche Makel
noch immer mit der Trauer seiner Mutter - und ihrem Entsetzen darüber, dass er das College aufgegeben hatte - konfrontiert und kam nicht gleich auf den Gedanken, er könne bei dieser Gelegenheit auch eine andere Rassenzugehörigkeit angeben. Er konnte seine Haut verkaufen, wie er wollte, er konnte sich nach freiem Ermessen eine Farbe aussuchen. Nein, das dämmerte ihm erst, als er im Gebäude der Bundesbehörde in Newark saß, die Fragebögen für den Eintritt in die Navy vor sich ausgebreitet hatte und sie, bevor er sie ausfüllte, aufmerksam und mit derselben Sorgfalt durchlas, mit der er sich auf die Highschool-Prüfungen vorbereitet hatte - als wäre das, was er gerade tat, sei es groß oder klein, für den Zeitraum, in dem er sich darauf konzentrierte, die wichtigste Sache der Welt. Und selbst dann dämmerte es nicht ihm. Es dämmerte zunächst seinem Herzen das zu pochen begann, als wäre es das Herz eines Menschen, der im Begriff steht, sein erstes großes Verbrechen zu begehen.
Als Coleman 1946 aus der Armee entlassen wurde, hatte sich Ernestine bereits für das Grundstudium am Montclair State Teachers College eingeschrieben, und Walt stand kurz vor dem Abschluss am Montclair State. Beide lebten zu Hause, bei ihrer verwitweten Mutter. Coleman jedoch, der entschlossen war, ein eigenes Leben zu führen, ließ sich jenseits des Flusses, in New York, nieder und schrieb sich an der New York University ein. Zwar wollte er lieber in Greenwich Village leben, als auf die NYU zu gehen, zwar wollte er lieber ein Dichter oder Dramatiker sein als ein Student, aber die beste Methode, die ihm einfiel, wie er seine Ziele verfolgen konnte, ohne arbeiten zu müssen, bestand darin, das staatliche Veteranenstipendium in Anspruch zu nehmen. Das Problem war nur: Kaum nahm er an Seminaren teil, da bekam er Bestnoten, und nach den ersten beiden Jahren war er auf dem Weg zu einer Mitgliedschaft in der Phi-Beta-Kappa-Verbindung und einem summa cum laude Abschluss in klassischer Literatur. Eine rasche Auffassungsgabe, ein glänzendes Gedächtnis und eine flüssige Ausdrucksweise in den Seminaren sorgten dafür, dass seine Leistungen so herausragend wie eh und je waren, mit dem Ergebnis, dass das, was er in New York am liebsten hatte tun wollen, durch den Erfolg auf einem Gebiet verdrängt wurde, für das er nach Meinung aller äußerst befähigt war und wo er durch seine brillanten Leistungen Zuspruch und Bewunderung erntete. Es begann sich ein Muster herauszubilden: Er bekam Anerkennung für seine akademischen Leistungen. Gewiss, er konnte das annehmen und die Tatsache, dass er auf unkonventionelle Weise konventionell war, sogar genießen, aber eigentlich war das nicht seine Absicht gewesen. Auf der Highschool war er ein As in Latein und Griechisch gewesen und hatte das Stipendium für Howard bekommen, obwohl er eigentlich doch bloß in den Golden-Gloves-Turnieren hatte boxen wollen; und hier, auf dem College, war er ebenfalls ein As, doch die Gedichte, die er seinen Professoren zeigte, lösten keine Begeisterung aus. Anfangs behielt er sein Lauf- und Boxtraining bei, weil es ihm Spaß machte, bis er eines Tages in der Sporthalle gefragt wurde, ob er für einen anderen, der seine Teilnahme zurückgezogen hatte, bei einem Vier-Runden-Kampf in der St. Nick's Arena einspringen wolle, und hauptsächlich, um sich für die entgangenen Golden-Gloves-Turniere zu entschädigen, nahm er die angebotenen fünfunddreißig Dollar und wurde zu seiner Freude ein heimlicher Profi.
Es gab also die Universität, es gab Gedichte, es gab bezahlte Boxkämpfe, und es gab Frauen, Frauen, die wussten, wie sie gehen und ein Kleid tragen mussten, Frauen, die in allem dem entsprachen, was er sich vorgestellt hatte, als er sich nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst von San Francisco nach New York aufgemacht hatte - Frauen, die die Straßen von Greenwich Village und die sich kreuzenden Fußwege auf dem Washington Square ihrem eigentlichen Verwendungszweck zuführten. Es gab warme Frühlingsnachmittage, an denen nichts im Nachkriegsamerika und schon gar nichts in der Welt der Antike Coleman stärker interessierte als die Beine der Frau, die vor ihm ging. Er war auch keineswegs der einzige Kriegsheimkehrer, der auf Frauenbeine fixiert war. In jenen Tagen schien es für die Ex-GIs an der NYU kein lohnenderes Freizeitvergnügen zu geben, als die Beine der Frauen zu würdigen, die in Greenwich Village an den Kneipen und Cafés vorbeigingen, wo sich die
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