Der Metzger bricht das Eis
Hunde, Frauen mit Kindern, ein dicker Mann mit Kinderwagen, ein Obdachloser mit Einkaufswagen. Ein bisschen Zoomen, ein Blick auf die Details, und schon hat er, wonach er sucht: »Ja, schau dich einer an!«, nimmt er die unerwiderte Zwiesprache mit dem Computerbild auf.
Stimmt es also, was ihm da kürzlich zu Gehör gekommen ist, wurde er vorgeführt wie ein Zweijähriger von einem Siebenjährigen mit Zauberkasten, einfach unglaublich.
»Du bist tot, mausetot!«, erklärt er dem gepixelten Antlitz.
Das wird ein Heidenspaß, langsam und endgültig den Strick zuzuziehen, dieser Bagage beim Zappeln zuzusehen. Ein Weilchen braucht es, bis er sich beruhigt hat, bis er Herr über sein Hohngelächter wird. Zugegeben, er kann nicht viel, eines aber kann er, und das kann er richtig gut: den andern anständig einheizen und selbst dann nicht aufhören, wenn sie ohnedies schon gewaltig ins Schwitzen gekommen sind.
Die Reise kann losgehen.
4
Durchgefroren und betroffen macht er sich auf den Rückweg, der Metzger, den kleinen Hügel hinunter und am Spielplatz vorbei. Ungehetzt, wie es seinem Naturell entspricht, ist sein Tempo, leicht gebückt, wie es seiner schlechten Haltung entspricht, ist sein Gang, nachdenklich zu Boden gerichtet ist sein Blick. Kein Wunder also, wenn ihm da in Kombination mit seiner unaufgeregten Beobachtungsgabe wie einem Bussard im Vorbeiflug genau jene Dinge ins Auge stechen, die in der üblichen Betriebsamkeit sonst unbemerkt bleiben – und zwar genau dort, wo kurz zuvor noch das Mädchen beinah erstickt wäre.
Im Inneren des mittlerweile verlassenen Spielplatzes umtänzeln ein paar Krähen die verwaist im Schnee liegende Dose Wasabinüsse. Unweit davon entfernt nähert sich nun auch der Metzger dem Boden und hebt ein kleines, buntes Umhängetäschchen auf. Rosa ist es, gefertigt aus Baumwolle, bestickt mit einer feenhaften Gestalt, allerlei Blümchen und dem Schriftzug »Anna«. Im Zuge des Abtransportes auf der Krankenbahre wird dieses Besitztum der Kleinen wohl aus der Jacke heraus in den Schnee gepurzelt sein.
Er weiß es zwar, der Willibald, so etwas gehört sich nicht, unerlaubt in fremde Portemonnaies zu äugen, und nein, es besteht auch kein Unterschied in der Bedeutung dessen, was ein Erwachsener oder ein Kind darin verborgen mit sich herumträgt. Trotzdem kann der Metzger nicht widerstehen und öffnet vorsichtig den Reißverschluss. Zwei kleine, runde Steine lachen ihm entgegen, ein unförmiges Stück Holz, eine Miniausgabe einer Packung Gummibärchen, eine bunte Kette, zwei Haarspangen, zwei Euro-Münzen, drei Buntstifte und ein kleiner Block.
Behutsam nimmt er Letzteren zur Hand und durchblättert vorsichtig die Seiten. Und da staunt er jetzt nicht schlecht, der Metzger: Wenn diese Zeichnungen tatsächlich von der etwa vierjährigen Anna stammen, dann können sich so manche Machwerke in den Schauräumen diverser zeitgenössischer Kunstsammlungen schon gewaltig am Wandhaken festklammern. Jede Seite ein anderes Tier, und auch ohne viel Phantasie sind diese Tiere eindeutig ihren realen Abbildern zuzuordnen: Seite 1 ein Frosch, Seite 2 ein Elefant, Seite 3 eine von ausgewachsener Handschrift eilig notierte Einkaufsliste, das ist eben ein Segen, wenn die Kinder immer etwas zu schreiben dabeihaben, Seite 4 ein Fisch, Seite 5 eine Giraffe, Seite 6 wieder eine schlampige Notiz, diesmal eine Zahlenreihe, wahrscheinlich eine Telefonnummer, so geht es weiter.
Eines steht für den Metzger in der Sekunde fest: Er will den Fund der rechtmäßigen Besitzerin zurückgeben, denn wie gesagt, es besteht kein Unterschied in der Bedeutung dessen, was ein Erwachsener oder ein Kind mit sich herumträgt. So blättert er also zur Telefonnummer, zückt sein ausschließlich für den privaten Gebrauch gedachtes Mobiltelefon und startet einen Anrufversuch.
»Hallo!«, meldet sich nach mehrmaligem Läuten eine Frauenstimme.
»Ja, hallo. Ich hoffe, Sie können mir helfen. Es geht um …!«
»Wer spricht da?«, wird er abrupt unterbrochen.
»Verzeihung. Mein Name ist Willibald Adrian Metzger. Ich ruf wegen eines Mädchens namens Anna an. Kennen Sie …?«
»Wer hat Ihnen meine Nummer gegeben?«
»Niemand. Die hab ich in Annas Täschchen gefunden. Sie hat es verloren, und ich würd es ihr gerne …«
Und aus, die Verbindung wurde unterbrochen. Der nächste Anrufversuch beginnt wie der erste, es läutet mehrmals, nur diesmal hebt keiner ab, nicht einmal die Sprachbox.
Etwas sonderbar empfindet er
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