Der Metzger bricht das Eis
Dreck, Menschen als Vorwand für Menschen. Und Patsch Nummer 23, hinein in die gute Stube, geschafft, geschafft, geschafft, geschafft!«
»Hallo, dürfte ich Sie kurz sprechen …!«
Der Metzger tritt zwecks Kontaktaufnahme einen Schritt näher, was sein Gesprächspartner zum Anlass nimmt, sich ruckartig zu erheben und weiterzulaufen. Schneller wird seine Gangart, undeutlicher die Worte, der Restaurator muss ein für ihn ungewohntes Tempo einschlagen, um überhaupt mithalten zu können. Offenbar hat sich nun die Aufgabenstellung geändert, denn Nummer 24, 25, 26 werden ignoriert, unterwegs verschwindet der Plastiksack in einem Mistkübel, es geht vorbei an Nummer 27, was den Metzger betrifft nur haarscharf, gerade noch kann er einen letzten rettenden Haken schlagen. Auch der Vordermann ändert unvermutet die Richtung. Blitzartig geht es hinein in die kniehoch verschneite Wiese. Und da kommt nun die Größe des gebückt gehenden Herrn so richtig zur Geltung, denn nur wegen einer schlampigen Haltung werden ja schließlich die Beine nicht kürzer. Mit gewaltigen Schritten springt er überraschend leichtfüßig durch den hohen Schnee hinauf in Richtung Pavillon, abwechselnd blitzen die roten Moonboots auf, links ein Leuchten, rechts ein Leuchten. Gleichzeitig vernebelt ein Schnaufen die Luft, und ein Rufen dröhnt durch den Parkt: »Bitte warten Sie doch, ich möchte mit Ihnen reden!«
Da sitzt der Obdachlose längst schon entspannt auf der Bank, erreicht schließlich auch der Metzger völlig außer Atem sein Ziel. Überraschend geräumig ist es unter dem Pavillon. Im Sommer als Schattenspender gedacht, wünscht man sich hier im Winter nichts anderes als Wärme. Gut, wenn einen Erdenbürger schon das Leben nicht vor Niederschlägen bewahren kann, kann es vielleicht das vorhandene Dach – das ist dann aber schon alles. Eisig pfeift der Wind durch die Holzsäulen, kalt wie der Flaschenhals all jener perfekt temperierten Schaumweine, mit denen vor Kurzem erst das neue Jahr begrüßt wurde, ist der gusseiserne Rahmen der Parkbank, und frostig die Begrüßung. Ohne den Metzger eines Blickes zu würdigen, murmelt der Bärtige weiterhin in monotonem Tonfall und in einem Höllentempo vor sich hin:
»Der Mann mit dem anderen Wagen, mit dem anderen Wagen. Kinderwagen. Kind oder nicht Kind, das ist hier die Frage, egal wie edel im Gemüt, man weiß es nicht, man sieht es nicht, wenn man nicht hingeht und hineinsieht, weiß man es nicht. Vielleicht ein Kinderwagen ohne Kind, so wie ein Einkaufswagen ohne Einkauf, so wie mein Einkaufswagen. Der Mann mit dem anderen Wagen. Was restauriert ein Metzger, ein Metzger gegenüber in der Werkstatt, totes Fleisch ist totes Fleisch, es gibt kein Zurück, was restauriert ein Metzger. Tote Kinder sind tote Kinder, es gibt kein Zurück, kein Zurück. Null ist Null ist eine natürliche Zahl, jede natürliche Zahl hat einen Nachfolger, nur Null ist kein Nachfolger einer natürlichen Zahl. Null ist der Anfang. Ich bin eine Null, ich bin am Anfang, nicht am Ende, Punkt. Am Nullpunkt …«
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, unterbricht der Metzger diesen unentwegten Fluss der Worte und nimmt Platz. Kurz hält der Angesprochene inne, dann geht es weiter:
»Nächster bitte. Bitte setzen, auch wenn er schon sitzt, egal, bitte setzen. Ausweis bitte, hat er ansteckende Krankheiten, Krankheiten, die sich fortpflanzen, ruckzuck, Neid, Gier, Hass, Unrecht, ansteckende Krankheiten, hat er das, hat er das und weiß es nicht, noch schlimmer: Hat er das und weiß es. Hat er ein eigenes Bett, so wie dieses, so warm wie dieses, so frei wie dieses, hat er etwas zu essen, wuff wuff, zu essen, so wie dieses, wuff, hat er …«
Die offene Dose Hundefutter zu Füßen des Mannes ist dem Metzger bereits beim Hinsetzen aufgefallen. Um 17 Uhr wandert im Supermarkt die Armut mit brauchbarem Hundefutter bei der Vordertür hinaus in die Kälte, ab 19 Uhr wandert die zumindest bis zum Ladenschluss noch brauchbar gewesene Ware bei der Hintertür hinein in die von Eisengittern und Vorhängeschlössern umgrenzten Mülltonnen – es ist, wie es ist, sagt die Liebe.
Ein Klumpen, der beim Gedanken an die eigenen Küchenabfälle nicht kleiner wird, liegt dem Restaurator im Magen. Winzig kommt er sich vor in Gegenwart dieses heruntergekommenen Mannes, winzig und belanglos. Wie alt wird er wohl sein, geht es ihm durch den Kopf. Sicher, Schmutz, Müdigkeit, Alkohol, Unterernährung und ein Vollbart machen nicht
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