Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Metzger geht fremd

Der Metzger geht fremd

Titel: Der Metzger geht fremd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raab
Vom Netzwerk:
dann eh nur mehr leicht bergab!«
    Was hin leicht bergab geht, geht zurück bekanntlich leicht bergauf. Es dauert ein wenig, bis beim Metzger das Angebot durch den innerlich schlagartig errichteten Hackenberger-Schutzwall bis zur Vernunft vordringt. Dann meint er lächelnd: »Das Rad wäre sicher einen Versuch wert – nicht?«
    Zwei Zimmer befinden sich im ersten Stock, eines davon bekommt der Metzger. Dusche und WC sind am Gang, und laut Frau Hackenberger ist der Gast im zweiten Zimmer ein durchaus reinlich wirkender Mann.
    Mit großer Sehnsucht nach Stille bezieht Willibald Adrian Metzger einen recht entzückenden mit dunklem Holz vertäfelten Raum, ausgestattet mit einem dunkelroten, beinah antiquarischen Polstersessel, einem alten Tischchen mit Hocker, einem Kleiderkasten, einem Kreuz, zum Glück ohne leidenden Jesus, roten Vorhängen und einem rot-weiß kariert überzogenen Bett ohne Kopf- und Fußteil – sehr zur Freude des im Schlaf Schutz suchend in Richtung Ober- oder Unterrand wandernden Willibald.
    Schwungvoll hievt er den Koffer auf die Matratze. Zum letzten Mal war dieses erinnerungsbeladene Erbstück in Verwendung, als er schweren Herzens eine für ihn niemals vorstellbare Ankündigung seiner Mutter in die Tat umsetzen musste. Am Bahnhof ist er gestanden, neben ihr, lange Zeit hat sie geschwiegen, nur um in diese Stille hinein den Koffer in die eine und ihn an die andere Hand zu nehmen: »Eines Tages wirst du damit den Inhalt meiner Garderobe zur Altkleidersammlung bringen. Irgendwann tragen dann sie uns, die Dinge, die wir durchs Leben schleppen!« Kaum einer seiner Wege bisher war schwerer gewesen.
    Und während der Metzger ganz in Gedanken an seine Mutter den Inhalt des Koffers aufs Bett entleert, fällt als Letztes, als würde etwas von den Toten zu den Lebenden zurückkehren, ein kleiner Gegenstand aus einem der unzähligen Fächer.
    Ergriffen und fassungslos sitzt der Metzger auf einem Bett in der Fremde und starrt in seine Kindheit. Die Nagelzwicke seiner Mutter!
    Wie hat er es gehasst, wenn die linke ihrer ansonsten so zärtlichen Hände der Reihe nach jeden seiner kleinen Finger fest umklammerte, als wären sie Reckstangen, Schneebesen oder Zahnbürsten, nur damit die rechte in aller Ruhe all das wegzwicken konnte, was der kleine Willibald so gerne selbst abgebissen hätte.
    »Wehe, du fängst mir mit dem Nägelbeißen an!«, wurde er auch noch verbal bedroht, und da es sonst von mütterlicher Seite so gut wie nie ein »Wehe, du …!« gab, war dieses eine umso wirkungsvoller. Ihr »So mittellos können wir gar nicht sein, Willibald, dass wir keine gepflegten Hände zusammenbringen; Verwahrlosung fängt mit den Händen an!« hört der Metzger heute noch. Und das sieht man seinen Händen, in denen er nun gerührt dieses geschichtsträchtige Teil hält, auch jetzt noch an, obwohl er sich bisher hartnäckig gegen den Einsatz dieses Hilfsmittels gesträubt hat.
    Gedankenverloren beginnt er nun, am Bett hockend, seine Nägel zu bearbeiten. Begleitet von diesem vertrauten bedrohlichen Geräusch springen die Nagelteilchen in hohem Bogen quer durchs Schlafzimmer, und dem Willibald wird klar: Wenn man über den heimtückisch verstreuten kleinen spitzen Verschnitt hinwegsieht, ist die Dienstleistung der Nagelzwicke ganz schön beachtlich.
    Die wird noch viel beachtlicher werden.
    Nach einer ausgiebigen Dusche in der engen und bei jeder Berührung der Duschwand scheppernden Nasszelle macht sich der Metzger auf den Weg, natürlich in frischer Kleidung, natürlich mit Rad, natürlich ohne zuvor den Reifendruck überprüft und die Sattelhöhe eingestellt zu haben. Der erste Fünfhundert-Meter-Anstieg wird schiebend zurückgelegt, man will ja nichts übertreiben, dann bringt der Metzger mit einem schmerzhaften Übergrätschen der Mittelstange den Körper in Abfahrtsposition, steigt ins linke Pedal, bemerkt, dass das Rad leicht zu rollen beginnt, steigt ins rechte Pedal, bemerkt, dass das Rad beschleunigt, sucht mit seinem Gesäß den Sitz, bemerkt, dass sich dieser auf Höhe des Kreuzbeins in seinen Rücken bohrt, streckt sich hoch, um aufzusitzen, sitzt auf und bemerkt, dass seine Füße kaum noch die Pedale berühren, bemerkt, dass die Landschaft neben ihm in bedenklich hoher Geschwindigkeit vorüberzieht, bringt das rechte Bein zwecks Einleitung eines Bremsmanövers in die richtige Position, steigt beherzt in die Bremse und bemerkt schließlich nach einigen panischen Wiederholungen desselben

Weitere Kostenlose Bücher