Wildes Begehren
1
Z uerst hörte er die Vögel. Es mussten Tausende sein, unzählige Arten, jede mit einer eigenen Melodie. Für ein untrainiertes Ohr klang das Gezwitscher wahrscheinlich wie ohrenbetäubender Lärm, für ihn dagegen wie Musik. Tief in seinem Innern erhob sich brüllend der Leopard, dankbar, den Duft des Regenwaldes wieder einatmen zu können. Er stieg aus dem Boot auf den wackligen Landungssteg und betrachtete die Bäume, die wie grüne Türme ringsherum emporragten. Sein Herz schlug höher. Wo immer er sich auch befand – der Regenwald blieb seine Heimat. Im Grunde jeder Regenwald, aber hier, in der Wildnis Panamas, war er geboren worden. Als Erwachsener hatte er den Urwald von Borneo zu seiner Heimat gemacht, doch seine Wurzeln lagen hier. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr er Panama vermisst hatte.
Er wandte den Kopf und sah sich um, genoss die Gerüche und Geräusche des Dschungels. Jeder Laut, vom vielstimmigen Gesang der Vögel über die Schreie der Brüllaffen bis hin zum Summen der Insekten übermittelte eine Fülle von Informationen, wenn man sie zu entschlüsseln verstand. Und darin war er ein Meister. Conner Vega straffte die Schultern,
es war nur eine kleine Bewegung, doch sein ganzer Körper schien zum Leben zu erwachen; jeder Muskel, jede Zelle reagierte auf den Wald. Er konnte es kaum erwarten, sich die Kleider vom Leib zu reißen und frei in der Wildnis herumzulaufen, wie seine Natur es verlangte. In seiner Jeans und dem einfachen T-Shirt wirkte er recht zivilisiert, doch direkt unter dieser dünnen Hülle lauerte das Ungezähmte.
»Der Wald ruft dich«, sagte Rio Santana mit einem Blick auf die wenigen Menschen am Ufer. »Aber warte noch, bis wir außer Sichtweite sind. Im Moment haben wir Publikum.«
Conner gönnte weder ihm noch den anderen einen Blick. Sein Herz pumpte das Blut durch seine Adern, dass es rauschte wie der Saft in den Bäumen; er vibrierte vor Energie, genau wie der wuselnde Insektenteppich auf dem Waldboden. Sein Leopard wollte die Freiheit der Heimat genießen, und die vielfältigen Grüntöne – in allen Schattierungen der Welt – begannen bereits zu bunten Schemen zu verschwimmen.
»Reiß dich zusammen«, stieß Rio zwischen den Zähnen hervor. »Verdammt, Conner, jeder kann uns sehen. Nimm deinen Leoparden an die Kandare.«
Panama-Jaguare gehörten zu den wildesten, unberechenbarsten Unterarten ihrer Gattung, und Conner war das Produkt der Gene dieser Großkatzen. Von allen Männern im Team war er der gefährlichste – blitzschnell, heißblütig und todesmutig. Er brachte es fertig, einfach im Wald zu verschwinden und dort Nacht für Nacht das Lager der Gegner zu terrorisieren, bis diese aus Angst vor dem geisterhaften, unsichtbaren Feind fluchtartig ihre Zelte abbrachen. Er war so unbezahlbar wie unberechenbar – und sehr schwer im Zaum zu halten.
Bei dieser Mission waren Conners Fähigkeiten besonders gefragt. Er gehörte zu jenem Stamm der Leopardenmenschen, die im Urwald von Panama heimisch waren, und das würde von großem Nutzen sein, falls sie diesen scheuen – und überaus gefährlichen – Gestaltwandlern begegnen sollten. Außerdem war es für das Team von Vorteil, dass Conner die hiesigen Indianerstämme kannte. In dem in weiten Teilen unerforschten Regenwald konnte selbst Gestaltwandlern die Orientierung schwerfallen. Doch da Conner in diesem Dschungel aufgewachsen war und ihn als seinen Spielplatz betrachtete, konnte er ihnen den Weg weisen, wenn es schnell gehen musste.
Mit einer langsamen, stockenden Bewegung, die an einen Leoparden auf der Lauer erinnerte, wandte Conner den Kopf. Bald würde sich seine Gestalt ändern – sehr bald. Die Hitze, die er verströmte, transportierte den Geruch des Raubtiers, das fauchend um seine Freiheit kämpfte, den eines starken, schlauen Leoparden auf der Höhe seiner Kraft.
»Es ist ein Jahr her, dass ich das letzte Mal im Regenwald gewesen bin.« Conner stellte Rio seinen Rucksack vor die Füße. Seine Stimme klang heiser, beinahe krächzend. »Und von zu Hause war ich noch länger weg. Lass mich gehen. Wir treffen uns dann im Basislager.«
Es war ein kleines Wunder und zeugte von Conners Disziplin, dass er auf Rios Nicken wartete, ehe er eilig auf die Baumreihe am Ufer zuging. Kaum zwei Meter hinter der Waldgrenze waren vom Sonnenlicht nur noch ein paar Sprenkel auf den üppigen, fleischigen Pflanzen übrig. Der Waldboden unter den Füßen – Schichten aus Holz und Pflanzen – fühlte sich
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