Der Metzger holt den Teufel
wahren zu können: »Na, wenn es sein muss, dann gehen wir halt!«
Und wie dann das Läuten die Menschen zurück zu ihren Plätzen zieht, zieht er bereits die große gläserne Schwingtür zu sich heran und einen rettenden Schwall Frischluft durch seine Nase, der Willibald.
Es ist einfach Zeit, sich zu verabschieden – auch für das jungfräuliche Frühlingsopfer.
3
D ER B EIFALL ZUR P AUSE war frenetisch. Seiner nicht.
Die Menschen hören nicht hin. Vielleicht hören sie zu, aber selbst dann bekommen sie die wirklich wichtigen Feinheiten nicht mit. Sie sind taub für die Nuance, die das Gute vom Minderwertigen unterscheidet; sie registrieren schlechte Stimmung erst, wenn sie ihnen ins Gesicht springt und alles verdirbt; sie erkennen Leid erst, wenn es durchs eigene Wohnzimmer spaziert.
Nur, dann ist es zu spät.
Wie betäubt tritt er ins Freie. Ein laues Lüftchen weht ihm um die Ohren, die Musik des Himmels. Dann macht er sich auf den Weg. Blätter gleiten sanft zu Boden, bedecken den Asphalt mit einer weichen Schicht satter Farben undverhüllen das Darunter. Es ist immer der Herbst, der ihm sein Ich zurückgibt. Der Sommer verabschiedet sich, kann angewidert seine eigene Hitze, seine aufgesetzte Fröhlichkeit nicht mehr ertragen, rettet sich in feuchte Kälte und Hochnebel, schickt das lästige Geschrei der Kleinen, das schale Getöse der Großen zurück in überheizte Wohnzimmer und gewährt sich selbst endlich Stille.
Zeit der Ernte, Zeit der Reife. Auch für ihn.
Denn dieser eine Herbst wird die Ernte dessen einbringen, was er Jahr für Jahr mit viel Mühe hat reifen lassen. Geduld ist der alles entscheidende Vorteil, um tatsächlich früher anzukommen. Rechtzeitig die Weichen stellen und warten, bis der Zug kommt. Alles vorbereiten, still am Rand der Gleise sitzen, nicht hektisch aufspringen, wenn er sich nähert, träge und unpünktlich, und ihn schließlich vorbeifahren lassen bis ans Ende – direkt in den Abgrund. Heute ist sein zweites Mal.
Er studiert die Menschen, beobachtet die Abläufe, lässt sich selbst beobachten, bis er verwachsen ist mit der Umgebung, bis ihn keiner mehr wahrnimmt. Vor den Augen der anderen ein Verschwundener zu werden, obwohl man sich unübersehbar in ihrem Blickfeld befindet, ist kein Kunststück. Dafür genügt es, einfach nur da zu sein. Jede sich aufopfernde Mutter weiß das, jeder treuherzig spendable Ehemann, jedes Schattenwesen in der hintersten Reihe.
Aus dieser hintersten Reihe konnte er inmitten der Zuschauer mehr sehen, als er wollte, denn auch derjenige, mit dem er es in nächster Zeit auf höchst spannende Weise zu tun bekommen wird, war anwesend, nicht dienstlich, sondern als Privatperson. Umso besser. Umso eindringlicher wird sich der Ermittler dieser Sache annehmen.
Ein letztes Mal zupft er sein Kleid zurecht, richtet seine Pölsterchen, streicht sich übers Haar.
Auch brave Jungs brauchen Auslauf.
4
E S IST DANN KEIN W IRTSHAUSBESUCH mehr geworden. Einen weiteren mit Menschen gefüllten, schlecht gelüfteten Raum hätte der Metzger nicht mehr ertragen, was folglich ebenso die Fahrt mit einem öffentlichen Verkehrsmittel oder einem Taxi ausschloss. Auch eine einsame lederne Rückbank hinter einem schon seit Stunden am Rande eines bunten Duftbaum-Mischwaldes hausenden Fahrer ist kein Garant für frische Luft. Dem Metzger blieb also nur mehr die Kraft seiner Beine.
Bis zur ersten Kreuzung hat sich der Kettenraucher Eduard Pospischill noch bemüßigt gefühlt, gierig an seiner Zigarette saugend die Abendluft zu aromatisieren und sein Rad neben dem dahinschleichenden Restaurator herzuschieben, dann wurde es der Hilfsbereitschaft des Kommissars zu blöd, immerhin hatte die eingeschlagene Richtung mit seinem eigentlichen Heimweg aber rein gar nichts zu tun, und es trennten sich ihre Wege. Zumindest im Hinblick auf seine Lunge war der Metzger heilfroh.
An und für sich ist so ein nächtlicher Stadtspaziergang im anbrechenden Altweibersommer eine beinah meditative Angelegenheit, der Ausklang des Jahres liegt in der Luft, aus den gefüllten Gastgärten klingt ein Hauch von Melancholie, und dank der doch schon herbstlichenAbendtemperaturen braucht wegen ein paar gemächlicher Schritte keiner mehr zu schwitzen. Willibald Adrian Metzger stehen trotzdem die Perlen auf der Stirn. Immer noch ist ihm übel. Jetzt, wo seine Begleitung das Weite gesucht hat, kann das endlich auch seine Hose. Leider nimmt das der Knopf, den er da so verbissen aus dem Loch zu
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