Der Metzger sieht rot
Hosenbund die wärmende und inzwischen körperwarme Zeitung entnommen hat. Zerknittert, aber durchaus noch als Nachtlektüre verwendbar, obwohl dem Metzger freiwillig zu Lesezwecken höchst selten eine Zeitung in die Finger kommt.
Heute wird sich diese Nachtlektüre allerdings nicht mehr ausgehen, müde sucht er nur mehr den schnellsten Weg in sein antikes Bettgestell, und der kann ja bei Männern durchaus eine Gerade sein, ohne Umweg ins Bad oder sonst wo hin. Es geht ihm ja wirklich nicht gut, dem Metzger.
Der neue Tag kommt mit einer Schwere daher, dagegen sind Wahlsonntage ein Lapperl, so schwer steht der Metzger auf, als hätte er die gesamten Stimmzettel für diverse rechtsradikale Parteien höchstpersönlich in einem Rucksack zur Entsorgung zu transportieren, da kommt ja einiges zusammen. Mit derartigen Gliederschmerzen steigt er aus dem Bett, als hätte er diesen richtungsweisenden Weg zur Mülldeponie bereits mehrmals zurückgelegt. Kein guter Tag also, allein sitzt er beim Frühstück, natürlich mit Djurkovic-Sehnsucht, aber er hat das so gewollt, zumindest gestern. Nach einem mühseligen Fußmarsch erreicht er in einer sehr matten Verfassung seine Werkstatt, die ihn mit der üblichen Aufgeräumtheit begrüßt, einzig ein Tabernakelschrank aus dem 18. Jahrhundert sorgt optisch für Chaos. Auf sein hölzernes Gerippe entblößt, nimmt er einen Großteil des Gewölbekellers ein. Sorgfältig gestapelt liegen die herausgenommenen noch renovierungsbedürftigen 26 Schubladen verschiedenster Größen an der Wand, alle feuervergoldeten und gänzlich im Original erhaltenen Bronzebeschläge sind behutsam abmontiert und schreien förmlich nach frischem Glanz. Eine Auftragsarbeit, grundsätzlich lebt der Metzger ja von solchen Stücken, nur kosten ihm genau diese die meiste Substanz. Denn er wäre nicht Restaurator geworden, wenn sich nicht zwischen seinen Werkstücken und ihm jedes Mal eine Form der Liebe einstellen würde, die über die Zeit erhaben sein möchte. Nur geht das schlecht, denn jedes dieser Stücke, bis auf jene, die in seiner Wohnung untergetaucht sind, muss wieder fort, er muss ja schließlich von etwas leben, der Metzger. Gut, Willibald Adrian archiviert sie zwar optisch fein säuberlich in seinen Fotoalben, um den Arbeitserfolg zu dokumentieren, man will sich ja nichts nachsagen lassen, nur weg ist in den meisten Fällen auch wirklich weg. Besonders bei Auftragsarbeiten, da wollen die Kunden zumeist bereits bei Auftragserteilung einen Fertigstellungstermin und den genauen Preis, und obwohl sich der Metzger zwingt, für solche mit bereits formuliertem Ablaufdatum versehene Liebesbeziehungen keinen emotionalen Speicherplatz zur Verfügung zu stellen, endet dann doch immer alles in einer menschlich-hölzernen Tragödie. Es beginnt eigentlich schon tragisch, denn der gewissenhafte Willibald Adrian schiebt die Beschäftigung mit diesen Gegenständen ab dem Zeitpunkt ihres Eintrudelns künstlich in weite Ferne, als würde er sich selbst vorgaukeln wollen, sie blieben ihm doch erhalten, auch über den Abgabetermin hinaus, das Wieder-weg-Müssen hängt ja schließlich von ihm ab. Möbelzwangsenteignung könnte man das nennen, nur kommt es dann nie so weit, denn sein Pflichtgefühl holt ihn immer in der Zielgeraden ein, und den Metzger überkommt ein Stress, dagegen hat der Urlauberrückreiseverkehr Erholungswert.
Dieser Tabernakelschrank hat es ihm nun besonders angetan, was man von seiner Besitzerin nicht gerade behaupten kann. Ingeborg Joachim. Da sprießen schon die ersten Knospen, schleppt sie noch ihren Chinchilla, ihren Nerz oder ihren Waschbären durch die Gegend, aber ohne ein Tröpfchen Schweiß auf ihrer Stirn, versteht sich. Ingeborg Joachim ist eher von der Machart, dass da schon gefälligst andere vor ihr schwitzen müssen, und zwar einzig aus Angst vor ihrer Launenhaftigkeit. Das hat der Metzger bereits bemerkt, wie sie ihn in ihre Wohnung kommandiert hat, um das teure Stück erstens zu begutachten und zweitens auch gefälligst gleich mitzunehmen, als wäre das so mir nichts dir nichts durchführbar. Da muss man einmal freundlich bleiben, denn was bleibt dem Metzger schon anders übrig, einzig sein guter Ruf bringt ihm Kunden, und da seine Kundschaft eher zu einer aussterbenden Spezies zählt, braucht er diplomatisches Geschick wie ein Amnesty-International-Abgesandter in Guantánamo. Was braucht auch so eine Person einen Tabernakelschrank, denkt sich der Metzger in Gegenwart dieses
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