Der Mönch und die Jüdin
dabei sein, wenn du es auspackst. Versprich mir also, nicht in das Paket hineinzuschauen. Schaffst du das, trotz der unbezähmbaren Neugierde, die ich dir vererbt habe?«
»Ja, Vater, versprochen!« Sie umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann machte sie sich sofort auf den Weg.
Jedes Mal wenn Hannah das Kölner Judenviertel verließ, schlug ihr Herz schneller. Früher war das Viertel, in dem alle Juden der Stadt lebten, für sie ein Hort der Geborgenheit gewesen, in dessen Gassen sie und ihre Schwester eine unbeschwerte Kindheit verlebt hatten. Doch je älter Hannah wurde, desto mehr fiel ihr auf, wie eng und begrenzt hier alles war – die schmalen, dunklen Wege zwischen den Häusern, die kleinen Plätze, die immer nur von Giebel zu Giebel reichenden Blicke aus dem Fenster. Nicht einmal den Rhein konnte man von hier aus sehen. Mit ihren inzwischen fast achtzehn Jahren entwickelte sich Hannah im Kontor immer mehr zur rechten Hand ihres Vaters. Ihre einzige Schwester Rebekka, die gerade fünfzehn geworden war, tat sich schwer mit dem Lesen und Schreiben und dem Rechnen, so dass sie lieber der Mutter im Haushalt zur Hand ging. Und mit seinen Söhnen hatte Joseph ben Yehiel kein Glück gehabt. Beide waren ihm kurz nach der Geburt gestorben.
Hannah liebte den Hafen. Dort lagen die großen Koggen, die von Köln aus flussabwärts bis zum Meer fuhren und dann nach London, in die Ostsee und sogar bis hinunter zum Mittelmeer segelten. Köln war ein großer Warenumschlagplatz, denn weiter hinauf konnten die ›Niederländer‹ genannten Koggen und die anderen seetüchtigen Schiffe nicht fahren. Hier lud man die Güter auf ›Oberländer‹ um, kleinere Flusskähne, mit denen die Reise rheinaufwärts fortgesetzt werden konnte. Viele Waren blieben aber auch in Köln, das stetig wuchs und sich inzwischen zur größten Stadt nördlich der Alpen entwickelt hatte. Hannah wusste nicht genau, wie viele Menschen in der Stadt lebten, in der sie geboren war, schätzte aber, dass es viele tausend sein mussten.
Durch dichtbevölkerte Gassen gelangte sie auf den Heumarkt, der umso bunter und belebter wurde, je mehr Kölns Bedeutung als Zentrum des Fernhandels wuchs. Das waren für Hannah die beiden aufregendsten Orte in der Stadt: Heumarkt und Hafen. Jedes Mal spürte sie dort ihr Fernweh: ein süßes, warmes Ziehen im Herzen. Einst hatten auf dem Heumarkt römische Bauten aus Kölns großer Zeit in der Antike gestanden. Doch nun waren sie längst abgerissen worden, um Platz für den stetig wachsenden Markt zu schaffen. In den letzten Jahren war der ganze Platz gepflastert worden, und zwischen den engen Gassen reihten sich Handelskontore, Marktbuden und Werkstätten dicht an dicht.
Hier herrschte ein ständig lärmendes Treiben, das Hannah schon immer magisch angezogen hatte. Natürlich wurden die in der Stadt selbst hergestellten Erzeugnisse angeboten, die anderswo begehrt waren, wie Waffen und die Kostbarkeiten der Kölner Gold- und Silberschmiede. Hauptsächlich aber trieb man Handel mit all dem, was die vielen Schiffe in Köln anlandeten. Importiert und weitervertrieben, vor allem nach England, wurden neben Getreide die edlen Weine des Mittel- und Oberrheins, außerdem Hering und Stockfisch von den nordischen Küsten, italienische Seide und südländische Gewürze, Tuche aus England und Wachs aus dem Baltikum. Zu Wasser und zu Lande verknüpften die Handelswege der Kölner Kaufleute Nord und Süd, Ost und West.
Hannah schlenderte mit hellwachen Sinnen durch das Markttreiben. Aus dem Stimmengewirr konnte sie rheinische, lateinische, baltische, friesische, holländische, englische und französische Wortfetzen heraushören. Einmal mehr erschien ihr Köln wie ein summender Bienenschwarm. Ihr Vater hatte ihr schon oft von den Bienen erzählt, von ihrem erstaunlichen Fleiß und ihrer Klugheit. Joseph konnte wunderbar erzählen. Das liebevolle Interesse, das er nahezu allen Dingen entgegenbrachte, machte ihn zu einem scharfen Beobachter und einem wunderbaren Erzähler. Und es hatte ihn dazu veranlasst, im Laufe seines Lebens eine Bibliothek zusammenzutragen, die – wie er nicht ohne Stolz sagte – in Köln ihresgleichen suchte. Von irgendwelchen Spannungen oder einer schlechten Stimmung in der Stadt bemerkte Hannah nichts. Und es war schwer, sich Sorgen zu machen, jetzt wo der Frühling kam, irische Knospen in den Sträuchern leuchteten und in den Gärten des jüdischen Viertels die Vögel sangen. Die Händler, die über
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