Der Mönch und die Jüdin
Land unterwegs waren, erzählten im Kontor, sie hätten schon die ersten Kraniche nach Norden ziehen sehen.
Hannah näherte sich dem Markttor, durch das ein stetiger Strom von Waren floss. Einen Moment lang blieb sie im Schatten der Stadtmauer stehen und schloss die Augen. Durch das Tor wehte ein kühler Wind und vermischte den Lärm der Stadt mit dem Lärm des Hafens, wo Schauerleute Fässer, Kisten und Stoffballen schleppten, Taue geworfen wurden und riesige hölzerne Schiffsbäuche sich knirschend an der Kaimauer rieben. Möwen kreischten im blauen Himmel, sausten herab, zankten sich um stinkende Fischabfälle.
Hannah öffnete die Augen wieder, durchschritt den Torbogen und atmete tief durch. Jenseits der Stadtmauer fühlte sie sich freier. Majestätisch lag der Rhein vor ihr, geheimnisvoll glitzernd, als bestünde er aus flüssigem Licht. Drüben, am anderen Ufer, lagen die Ziegel- und Strohdächer von Deutz in strahlendem Sonnenschein, umgeben von fruchtbaren Feldern, Viehweiden, Obstplantagen und Weingärten. Und dahinter, in blau schimmernder Ferne, begannen die endlosen, gefährlichen Wälder des Ostens. Hannah nahm alles begierig in sich auf und genoss die weite, ungehinderte Sicht. Langsam schlenderte sie am Kai entlang und hielt Ausschau nach dem Schiff von Kapitän Helmbrecht.
Ein Stück flussabwärts entdeckte Hannah schließlich Helmbrechts schöne, stattliche, erst zwei Jahre alte Kogge. Gerne hätte Hannah das große Rahsegel gesehen, doch der Mast war noch kahl wie ein Baum im Winter. Das Segel wurde erst wieder gesetzt, wenn die Kogge ablegte und flussabwärts fuhr. Flussaufwärts war sie, wie alle großen Schiffe, mit Hilfe langer Taue von Pferden und Ochsen gezogen worden, die auf einem Pfad entlang des Ufers liefen. Treideln nannte man das in der Sprache der Schiffer.
Helmbrecht war ein großer, kräftiger, etwas ungeschlacht wirkender Mann mit einem langen grauen Bart. Als er Hannah auf der Kaimauer stehen sah, hob er eine seiner Pranken und winkte. »Kommt an Bord, Josephstochter!«, rief er. »Wo habt Ihr Euren werten Vater gelassen?«
Sie lief rasch über eine schwankende Planke, unter der das Wasser des Flusses gurgelte. Etwas atemlos sagte sie: »Leider konnte er nicht mitkommen, da wichtige Geschäfte ihn im Kontor festhalten. Er lässt Euch aber herzliche Grüße bestellen.«
»Grüßt ihn ebenso herzlich von mir. Ich würde ihm gern morgen einen persönlichen Besuch abstatten, wie ich es sonst gelegentlich tue, aber das ist diesmal unmöglich. Wir laden heute den ganzen Tag und brechen, wenn der Fluss nebelfrei bleibt, vor Anbruch der Dunkelheit schon wieder auf.«
»Wohin fahrt Ihr denn?«, fragte Hannah neugierig und beobachtete fasziniert, wie die Schauerleute allerlei Kisten und Fässer in den dicken Rumpf des Schiffes schafften.
Stolz antwortete Helmbrecht: »Nach England. In London ist die neue Gildehalle der Kölner Kaufleute eröffnet worden. Dorthin bringen wir Wein, Metallwaren und Gewürze und kehren mit Wolle, Häuten und Rohmetallen wieder heim.«
Hannah seufzte. Wie aufregend musste das Leben eines Kauffahrers sein! Gerade erst war Helmbrecht von Lissabon entlang der Atlantikküste bis zum Rhein hinaufgesegelt. Und jetzt würde er die Küste Englands und die berühmte Stadt London sehen!
Wind und Wetter hatten tiefe Furchen in Helmbrechts Gesicht gegraben. Diese Landschaft formte sich jetzt zu einem Lächeln. »Mein Freund Joseph ben Yehiel ist wirklich zu beneiden, denn seine Tochter wird von Jahr zu Jahr schöner. Gott, der Allmächtige, der über unsere beiden Völker regiert, hat Euch nicht nur mit einem wachen Verstand, sondern auch mit außerordentlichem Liebreiz ausgestattet, mein Kind. Meine Töchter dagegen sind zwar von brauchbarem Verstand, was sie zu nützlichen Helferinnen im Schiffskontor macht, aber leider haben sie die vierschrötige Hässlichkeit ihres Vaters geerbt, was es mir außerordentlich erschwert, sie zu verheiraten. Euch aber werden die edelsten Kaufleute und weisesten Gelehrten Eures Volkes zu Füßen liegen.«
Hannah senkte die Augen und kicherte verlegen. »Ach, Kapitän, Ihr seid ein Schmeichler! Noch ist der Mann meines Herzens mir nicht begegnet. Aber mein Onkel, den ich, wie Ihr wisst, nicht ausstehen kann, liegt meinem Vater ständig in den Ohren, mich mit einem langweiligen jungen Rabbiner hier aus dem Kölner Judenviertel zu verheiraten. Oder mit einem reichen, aber alten und hässlichen Kaufmann!«
»Kopf hoch, mein Kind!«,
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