Der Mörder von Richmond Hill Kommissar Morry
Unter der nächsten Laterne bleibe ich stehen, nahm sie sich vor. Er wird es nicht wagen, mich dort zu attackieren. Er sucht die schützende Dunkelheit. Der Lichtkreis war wie eine Insel, auf der sie Schutz und Sicherheit finden würde. Sie war erleichtert, als sie ihn erreicht hatte. Mit einem Ruck wandte sie sich um. Sie sah niemand. Die Straße war leer.
Sie starrte den nächsten Baum an. Der Stamm war dick und knorrig; ein Mensch konnte sich bequem hinter ihm verbergen. Ich gehe jetzt hin und schaue nach, überlegte sie kühn. Aber sie wußte, daß sie es nicht tun würde. Vom Gedanken bis zur Ausführung war es ein weiter Weg. Ihr fehlte einfach der Mut. Ich sehe Gespenster, redete sich sich ein. Ich habe das Echo der eigenen Schritte gehört, das ist alles. Wer sollte mich verfolgen? Aber ihr Hals schmerzte noch von dem brutalen Würgegriff, und der kaum erloschene Terror des Abends richtete sich erneut auf. Schwankend zwischen Furcht und Hoffnung hielt sie den Blick unablässig auf den dicken Baumstamm gerichtet. Langsam ließ sie ihn an der Rinde nach unten gleiten. Ihr Herzschlag drohte auszusetzen. Sie sah die Spitze eines Schuhes.
Julia betrachtete den Schuh, als könne sie ihren Augen nicht trauen. Wilde Erregung erfaßte sie. Sie dachte nicht mehr daran, unter der Laterne stehenzubleiben. Sie bückte sich, um die Schuhe von den Füßen zu streifen. Einen davon behielt sie in der Hand. Als Waffe. Dann rannte sie wie von Furien gehetzt auf bloßen Füßen die Straße hinab. Schon in der nächsten Sekunde spürte sie, daß er hinter ihr war. Sie schrie laut auf, als zwei Arme sie packten und herumrissen. Ihre Augen weiteten sich, als sie den Mann erkannte.
„Du...", stammelte sie verblüfft und außer Atem.
„Ja", sagte der Mann. „Ich."
Dann schlossen sich seine Hände um ihren Hals. In Julias Blick trat flirrendes Entsetzen. Ihre Lippen bewegten sich. Sie wollte um Gnade bitten, sie wollte schreien, sie wollte — sie wollte ...
Was immer sie auch wollte, es zerbrach unter dem unbarmherzigen Druck der Hände, es ging unter in dem tosenden Strudel, der ihren Verstand und ihr Gefühl erfaßte und alles in eine tönende, wie von Orgelbrausen erfüllte Dunkelheit riß. Der Schuh entfiel ihren kraftlos werdenden Fingern. Der Mann spürte, wie ihr Körper erschlaffte. Ein trockenes Schluchzen zerrte an seiner Kehle, als er begriff, daß er zum Mörder geworden war. Und augenblicklich brach er mitsamt seinem Opfer am Rande des Bürgersteigs zusammen. Seine Ohnmacht des Ekels, die gleichermaßen auch von seinem satanischen Triumphgefühl ausgelöst worden war, hielt nur kurze Zeit an.
Schon nach Sekunden erschöpften Keuchens riß es ihn wieder in die Höhe. Er wußte, er war zum Mörder geworden und mußte damit fertig werden. Jetzt hieß es vor allem, das Opfer von der Straße wegzuschaffen und dann schnellstens aus der Gegend zu verschwinden. Er stand auf und blickte um sich. Niemand war zu sehen. Alles war still. Nur das monotone Rauschen des Regens erfüllte die Nacht. Trotzdem, es gab Konstabler, die auch hier regelmäßig ihre Runde machten, und es gab schnelle Streifenwagen, deren Ziel die einsamen Straßen waren. So entfaltete er eine fiebrige Tätigkeit, die Spuren seines Verbrechens entsprechend zu verwischen. So, das war geschafft. Vor Tagesanbruch würde die Polizei nichts finden. Bis dahin — so meinte er — war er längst in Sicherheit.
Er schaute sich nochmals prüfend um. Nur nichts dem Zufall überlassen! Er schob die Handtasche des Mädchens unter den Regenmantel und lief die Straße zurück zu seinem Wagen. Er öffnete den nur angelehnten Schlag und setzte sich hinter das Steuerrad. Als er auf den Anlasserknopf drücken wollte, sah er plötzlich, daß der Zündschlüssel nicht mehr steckte. Er runzelte die Stirn und faßte in seine Tasche.
Hatte er beim Aussteigen den Schlüssel abgezogen? Höchstwahrscheinlich. Aber der Schlüssel war nicht in der Tasche. Er stieg aus, um besser alle Taschen durchsuchen zu können. Der Schlüssel fand sich nicht. Er spürte eiskalte Furcht. Wo war der Schlüssel? Hatte er ihn auf der Straße verloren? Hatte er ihn überhaupt abgezogen? Hatte er ihn steckengelassen? Aber wenn das stimmte — wer hatte ihn dann an sich genommen?
Er zuckte zusammen, als er hinter sich eine Stimme hörte. „Guten Abend, Sir."
Er fuhr herum. Ihm gegenüber stand ein Polizist. Der Polizist tippte an seinen Helm. Dann hielt er einen Schlüssel in die Höhe.
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