Der Mörder von Richmond Hill Kommissar Morry
benötigt, um nach hier zu gelangen. Ich habe einen sehr leisen Schlaf, Sir, und ich werde meistens munter, wenn einer der Mieter zu so später Stunde nach Hause kommt. Ich kann mich nicht erinnern, irgend etwas gehört zu haben."
„Vielen Dank, Mr. Kinley."
Der Kommissar stieg mit dem Polizisten die Treppe zur Wohnung der Ermordeten hinauf. Dort löste er vorsichtig den Streifen mit dem Polizeisiegel und öffnete sie dann mit Hilfe des Zweitschlüssels, den ihm der Hausmeister überlassen hatte.
Es war eine Kleinwohnung, wie sie nach dem Kriege in London zu Tausenden errichtet worden waren: eine winzige Diele, ein kleines WC mit Duschecke, eine Kochnische und ein großes Wohnzimmer mit breitem Fenster und einem Balkon.
Ein Blick in die Küche zeigte dem Kommissar, daß die Regieassistentin Julia Hopkins mit allen hausfraulichen Tugenden auf Kriegsfuß gestanden hatte. Im Spülbecken standen Stapel schmutzigen Geschirrs. Auf dem Kühlschrank vertrockneten einige Brotscheiben. Auf dem Fußboden stand eine offene Dose, die einmal Pfirsiche enthalten hatte. Jetzt diente sie als provisorischer Aschenbecher.
Der Kommissar warf einen Blick in den Kühlschrank, dann betrat er das auf der anderen Seite der Diele gelegene WC. Auch hier sah es nicht sehr ordentlich aus; leere Zahncreme- und Shampootuben lagen neben offenen Schminktöpfen, und ein Rasierapparat mit Klingen deutete darauf hin, daß Miß Hopkins auch auf männlichen Besuch eingerichtet war. Über einer Plastikleine hingen zwei Paar Strümpfe.
Morry verließ das Bad und betrat das Wohnzimmer. Der große mit einem violetten Teppich ausgelegte Raum war im Stil nordischer Raumgestalter eingerichtet. Teakholzmöbel von schlichter, geschmackvoller Formgebung, ein großer Sideboard, über dem eine Utrillo-Kopie hing, moderne Batik-Wandbehänge, ein gefülltes Buchregal und seltsam geformte Vasen gaben dem Zimmer einen extravaganten und zugleich künstlerischen Anstrich. Auch hier sah es recht unordentlich aus; es roch nach kalter Asche, und in einer Schale aus rubinfarbigem Kristall lagen mindestens zwanzig Zigarettenkippen.
„Öffnen Sie bitte das Fenster", sagte Morry zu dem Polizisten.
Neben dem Balkonfenster stand ein Schreibsekretär. Morry öffnete ihn und zog einige der Briefe heraus, die er dort fand. Er entfaltete und überflog sie, ohne einen von ihnen zu Ende zu lesen. Er entdeckte ein paar Mahnungen darunter und auch einige Verehrerzuschriften. Es waren keine schwülstigen Liebesbriefe, sondern betont kühl oder auch kollegial gehaltene Formulierungen, aus denen man die Zuneigung eher ahnen als klar herauslesen konnte.
Der Kommissar stopfte alle Briefe, deren er habhaft werden konnte, in seine Tasche. Er prüfte den restlichen Inhalt des Sekretärs mit großer Sorgfalt, fand aber nichts, was sein besonderes Interesse erregte.
Dann trat er an das Buchregal, das eine ganze Wand einnahm, drehte kurz an dem pastellfarbigen Radio herum und schüttelte einige der im Regal stehenden Vasen, als erwarte er, darin etwas vorzufinden. Eine von ihnen enthielt ein paar Stecknadeln.
An der Schmalseite des Zimmers, dem Bücherregal genau gegenüber, befand sich der eingebaute Kleiderschrank. Der Kommissar öffnete die Türen und betrachtete die imponierende Sammlung von Kleidern, Kostümen und Mänteln.
Er prüfte nur den Inhalt der Manteltaschen und schloß dann die Türen. Seinem fast oberflächlich wirkenden Benehmen war anzumerken, daß er sich von der Wohnungsbesichtigung nicht allzuviel versprach. Plötzlich klingelte das Telefon.
Morry schaute den Polizisten an, dann ging er zum Apparat und nahm den Hörer ab, ohne sich zu melden.
„Hallo!" hörte er eine männliche Stimme. „Hallo — bist du es, Julia?"
Der Kommissar bemerkte eine leise Unruhe in der dunklen Stimme am anderen Ende der Leitung.
„Julia — was ist?"
„Wer spricht dort?" fragte Morry.
Einen Moment war es ruhig in der Leitung, dann knackte es. Der Teilnehmer hatte aufgelegt. Der Kommissar blickte kurz und nachdenklich den Hörer an, dann ließ er ihn auf die Gabel gleiten.
„Wahrscheinlich harmlos", meinte er. „Irgendeiner ihrer Verehrer. Der wird jetzt vor Eifersucht den eigenen Hut verzehren. Er muß ja annehmen, daß die männliche Stimme, die er vernahm, einem Nebenbuhler gehört."
„Sobald er Zeit findet, die Mittagsausgaben der Zeitungen anzuschauen, wird er wissen, daß er mit der Polizei gesprochen hat", bemerkte der Konstabler.
Morry schaute sich weiter um. Er
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