Der Mörder von Richmond Hill Kommissar Morry
quälten auch seltsame Angst und Unruhe. Es war ganz merkwürdig. Ich hörte in deinem Zimmer das Radio spielen und glaubte, du würdest noch lesen. Ich warf mir den Morgenmantel um, klopfte bei dir an und trat ein, als ich keine Antwort bekam. Du warst nicht da."
„Um welche Zeit war das?"
„Kurz nach Mitternacht. Null Uhr zwanzig, um genau zu sein."
Er starrte sie an. „Was schließt du daraus?"
„Nichts, Archy. Das heißt, ich dachte ..."
„Nun, was dachtest du?"
„Ach, nichts."
„Sprich schon!"
Beatrice seufzte. „Warum bist du so barsch? Ich hielt es nicht für ausgeschlossen, daß du zu Monika gefahren warst."
„Das trifft auch zu", erwiderte er und stand auf. „Ihre Eltern waren, im Theater. Sie rief mich an und bat um meinen Besuch, und ich fuhr zu ihr. Zufrieden?"
„Aber ja, Archy. Willst du denn schon gehen?"
„Morry wartet auf mich, mein Kind. Mache dir bitte keine unnützen Sorgen. Ich bringe alles in Ordnung."
„Ich halte dir die Daumen, mein Lieber."
Er ging um den Tisch herum und hauchte der Schwester einen Kuß auf die Schläfe. Dann entfernte er sich, ohne ein weiteres Wort geäußert zu haben. Etwa eine Stunde später später saß er im Dienstzimmer dem Kommissar gegenüber.
Morry vermittelte den Eindruck kluger und zugleich jovialer Überlegenheit. Das lag nicht allein daran, daß er auf der „richtigen" Seite des Schreibtisches saß. Er verfügte über eine ungewöhnliche Ausstrahlungskraft, und Vickers spürte sofort, daß er sich einer starken und vitalen Persönlichkeit gegenüber befand. Er beschloß, auf der Hut zu sein. Morry betrachtete den Besucher. Er hatte in seinem Leben schon viele Mörder gesehen und gestellt, und er hatte in den vielen Jahren seiner kriminalistischen Laufbahn immer wieder versucht, die Menschen, in denen der Tötungstrieb ein- oder auch mehreremal triumphieren konnte, in irgendeinem Punkt auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Aber alles, was er gelernt hatte, war die Erkenntnis, daß eine Typisierung schlechthin ausgeschlossen ist. Es gibt kein Kainszeichen, das sich bei jedem Übeltäter findet und den Mörder verrät. Oft sind es gerade die Unschuldigen, die bei Vernehmungen die größte Nervosität zeigen und genauso handeln, als wären sie ein Opfer ihres schlechten Gewissens. Archy Vickers war für den Kommissar zunächst nichts anderes als ein wohlhabender und recht gut aussehender junger Mann aus bestem Hause, der ein Motiv haben konnte . . . vorausgesetzt, daß die Theorie, die diesem Motiv zugrunde liegen sollte, einer genaueren Prüfung standzuhalten vermochte. Seit dem Mord waren viele Tage verstrichen. Man hatte eine Unzahl von Spuren verfolgt, und von den Namen, die auf den beiden Gästelisten gestanden hatten, war jeder einzelne überprüft worden.
„Haben Sie eine Ahnung, weshalb ich Sie bat, uns zu besuchen?" fragte der Kommissar freundlich.
„Natürlich", erwiderte Vickers lächelnd. „Ohne Zweifel bringen Sie mich in Verbindung mit dem Mordfall Hopkins."
„Sie kannten die junge Dame?"
„Gewiß."
„Sie bestreiten vermutlich, sie ermordet zu haben?"
Vickers' Lächeln ging in ein vergnügtes Grinsen über. „Sie sind freundlich genug, mir die Antwort in den Mund zu legen", erwiderte er mit leisem Spott.
„Sie sehen nicht aus wie ein Mann, der sich zu einem schnellen Geständnis bereit findet."
„Hatten Sie denn etwas Ähnliches erwartet?"
„Nicht unbedingt."
Sie schwiegen einige Sekunden und betrachteten sich gegenseitig mit der Gelassenheit von Menschen, die trotz ihrer Gegnerschaft frei von Groll und Ressentiments sind.
„Sie haben mich gewiß nicht ohne Grund rufen lassen", stellte Vickers sachlich fest.
„Da haben Sie recht. Wie ich mir sagen ließ, sind Sie mit Miß Craftfield verlobt?"
„Nicht offiziell, Sir."
„Stehen Sie zu der jungen Dame in intimen Beziehungen?"
„Seit der Mordnacht ja."
Der Kommissar nahm einen Bleistift in die Hand und drehte den an der Rückseite befestigten Radiergummi fest. Den Blick nahm er dabei nicht von Vickers weg.
„Richtig, darüber wollte ich mit Ihnen sprechen. Wie kommt es, daß Sie sich ausgerechnet diese Nacht aussuchten, um Ihrer heimlichen Verlobten — sagen wir: näherzutreten?"
„Das ergab sich so. Ein Zufall, wenn Sie so wollen. Das ist doch wohl nicht strafbar?"
„Keineswegs. Wie ich höre, waren Miß Craft- fields Eltern in jener Nacht im Theater?"
„Ja, ich glaube."
„Sie wissen es nicht genau?"
„Monika sagte mir etwas
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