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Der Moloch: Roman (German Edition)

Der Moloch: Roman (German Edition)

Titel: Der Moloch: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stella Gemmell
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    Am Anfang war die Dunkelheit … schwer und erdrückend, blauschwarz und fühlbar erfüllte sie Mund, Ohren und Verstand. Dann kam der Geruch … gewaltig und so massiv wie harter Stein unter nackten Füßen oder ein Kissen über dem Gesicht, das jeden Gedanken erstickt. Schließlich das Geräusch der Kanäle … das niemals endende Seufzen des Stroms, das Tropfen, das Platschen und das Rauschen.
    Und das Klicken scharfer Krallen auf nassen Ziegeln.
    Die Ratte war groß, alt und gerissen. Sie brauchte kein Licht, um den Konturen des Labyrinths zu folgen, in denen sie ihre Tage verbrachte. Ihre Krallen registrierten selbst die kleinsten Unterschiede in der Beschaffenheit der Ziegelsteine, über die sie lief, hoch über dem nie endenden Strom des Lebens. Die erstaunliche Wahrnehmungsfähigkeit ihrer zuckenden Nase sagte ihr, wie hoch das Wasser floss, erzählte ihr etwas über die Qualität seines Inhaltes, die obere, dünne Brühe, in der Pflanzen, kleine tote Dinge und manchmal auch größere schwammen, und darunter die dickere Flüssigkeit, die ihre eigenen Herausforderungen für einen kritischen Nager barg. Außerdem sagte ihre Nase ihr auch etwas über die Luftqualität, die manchmal so schlecht war, dass selbst eine Ratte krank davon wurde. Sie spürte am Druck auf ihren empfindlichen Ohren, ob sie durch einen kleinen, engen Gang lief oder ob sich die Decke hoch über ihr zu einem gewaltigen Gewölbe erhob, das von einem schon lange vergessenen meisterhaften Architekten ersonnen und von einer Gruppe von Stadtbaumeistern errichtet worden war. Ein Wunder der Statik, das seit Jahrhunderten niemand mehr zu Gesicht bekommen hatte und das inzwischen vollkommen vergessen war.
    Die Ratte hörte das Trippeln ihrer Freunde auf der anderen Seite der Ziegelmauer, der sie folgte und die durch den nächsten, feuchten Tunnel über ihm führte. Aber für eine Weile hatte sie alle abgehängt, während sie der gnadenlosen Forderung ihrer Nase folgte.
    Der Leichnam war kaum aufgebläht, gerade erst tot. Selbst die Totenstarre war erst vor kurzem gewichen. Er war nackt bis auf einen Tuchfetzen, der um seinen Hals im Wasser trieb. Die Haut war so blass und so kalt wie ein Sonnenaufgang im Winter. Er hatte sich in den zerkratzten Stäben eines zerbrochenen Metallgitters verhakt, das für eine kurze Zeit erneut die schon lange aufgegebene Aufgabe wieder übernommen hatte, größere Objekte daran zu hindern, weiter flussabwärts in die unergründlichen Tiefen des Abwasserkanals zu treiben.
    Später am Tag würde die Strömung stärker werden, und der Tote würde allein weiterreisen – jetzt aber leistete die Ratte ihm eine Weile Gesellschaft.
    Der Junge fuhr hoch, dort auf dem winzigen Vorsprung, wo er schlief. Er trat aus. Dieser Tritt musste entweder eine unwillkürliche Muskelaktivität oder aber das Ende eines schlechten Traums gewesen sein, denn es war nur eine sehr kleine Bewegung. Er schlief jetzt lange genug auf diesem Vorsprung, um selbst im Schlaf zu wissen, dass er sich keine plötzlichen Bewegungen leisten konnte, ganz zu schweigen davon, sich schläfrig auf die andere Seite zu drehen, denn damit wäre er in den Kanal gestürzt, in dem das Abwasser unaufhörlich unter ihm entlangfloss. Aber wenn er sich nachts zur Ruhe legte, war er immer hundemüde, so gut wie tot, jedenfalls für die Welt über ihm, und er lag da, ohne sich zu rühren, bewusstlos, bis es Zeit wurde aufzuwachen.
    Elija lebte seit vier Jahren in der Kanalisation und war zehn Jahre alt.
    Er wusste, wie privilegiert seine Lage war. Als er mit seiner Schwester dort Zuflucht gesucht hatte, hatte ihr Beschützer, ein älterer Junge, ein Rotschopf namens Rubin, für ihr Recht kämpfen müssen, an diesem warmen und sicheren Ort bleiben zu dürfen. Auch danach hatte einer von ihnen zahllose Nächte lang Wache halten müssen, damit sie nicht von denen in die Kanalisation gestoßen wurden, die ihnen ihr Territorium neideten. Aber das war schon sehr lange her. Seine kleine Schwester Emly konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern. Jetzt lebten sie schon weit länger in den Abwasserkanälen als die meisten anderen Kloaker, und zurzeit waren sie in Sicherheit.
    Elija bewegte sich vorsichtig und ertastete mit dem nackten Fuß die unterschiedliche Beschaffenheit der Ziegelsteine, bis er auf ein Stück bröckelnden Zement stieß, dessen Umrisse er besser kannte als seine Handfläche. Er setzte sich vorsichtig auf. Fahles Licht fiel durch die zerbrochenen Mauern hoch

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