Der Mondmann
wollte noch nicht weitergehen. In ihrer Haltung erinnerte sie an eine Person, die auf etwas wartete. Erst wenn das eintrat, würde sie den Weg fortsetzen.
Noch spürte sie nur den Wind auf ihrem Gesicht. Und wenn sie richtig darüber nachdachte, dann vermisste sie den gefiederten Boten auf der Fensterbank, der ihr mitteilte, wie es weiterging.
Die Frau spürte den inneren Drang, ihren Kopf anzuheben und zum Himmel zu schauen. Langsam bewegte sie sich, und der erste Blick in den Himmel zeigte ihr nichts Besonderes. Was sie sah, war die Normalität des Abends.
Wolken wurden vom Wind erfasst und trieben in der Höhe wie dünne Schleier über sie hinweg. Sie sorgten nicht für eine dichte Bewölkung. Melody konnte davon ausgehen, dass der Himmel klar war, so klar, dass sie sah, was sich da so zentral abmalte.
Es war der Mond!
Nicht der runde sattgelbe Vollmond, sondern die schmale Sichel eines Halbmonds. So kalt wie selten sah sie ihn, und er schien zum Greifen nahe zu sein.
Melody atmete tief durch. Es kam ihr vor, als hätte sie den Mond noch nie in ihrem Leben so klar gesehen wie heute. Er und der Himmel waren zwei glatte Gegensätze. Er stach von dieser dunklen, tiefblauen Farbe ab, und nicht ein Wolkendunst umgab ihn.
Manche Menschen sagen, dass der Mond wie gemalt am Himmel steht. Diesem Vergleich konnte Melody in dieser Nacht zustimmen, denn er sah tatsächlich so aus.
Noch etwas faszinierte sie. Von dieser Sichel, die auch mit einer fast hochkant stehenden Gondel zu vergleichen war, ging eine Kraft aus, die sie nicht unberührt ließ. Über ihren Körper rann ein leichtes Kribbeln, das jedoch nicht nur auf der Haut blieb, sondern sie durchdrang und ihr Inneres erfasste.
Vergessen waren das Fieber, die Hitzewellen, die heißen und kalten Schauer. Jetzt gab es nur den Mond für sie, und sie hatte den Eindruck, als gehörten sie und er zusammen. Da gab es das unsichtbare Band zwischen ihnen, das sie auch nicht trennen wollte.
Der Mond stand da, der Mond war erschienen, um ihr eine Botschaft mitzuteilen.
Was es war, wusste sie nicht, aber sie fühlte sich irgendwie geborgen. Sie sah die kalte, gelbweiße Sichel auch als Zeichen für etwas an, das noch auf sie zukommen würde.
Das Flattern der Flügel riss sie aus ihrer Starre. Zuckend bewegte sie den Kopf in die verschiedenen Richtungen. Auf der rechten Seite flog etwas entlang. Es bewegte heftig die Schwingen, und sie wunderte sich über die Größe.
Dann fühlte sie sich erleichtert, als sie den Raben erkannte, der vor ihr in einer gewissen Höhe seine Kreise drehte und seinen Kopf dabei so hielt, dass die Augen sie beobachteten.
Nach wenigen Sekunden sank er dem Boden entgegen und landete dort. Er blieb auf dem Fleck. Den Kopf hatte er leicht zurückgedrückt, damit er mit seinen gelben Augen in die Höhe schauen konnte, um in das Gesicht der Frau zu sehen.
Melody tat nichts. Sie blieb auf dem Fleck stehen, als wäre sie angeleimt worden. Dem Blick hielt sie Stand, und immer stärker gewann sie den Eindruck, dass ihr diese Augen eine Botschaft vermitteln wollten, die irgendwann für sie sehr wichtig sein würde.
Aber was wollte ihr der Vogel sagen? Er musste eine Botschaft haben. Anders konnte sie sich sein Verhalten nicht erklären. Sie wusste auch, dass es eine Kommunikation zwischen Mensch und Tier gab. Das war besonders bei Hundebesitzern ziemlich ausgeprägt, und jetzt traf es bei ihr und dem Vogel zu, als würde in seinem Körper der Geist eines Menschen stecken.
Sie wartete. Der Wind zerrte an ihr. Er fuhr kalt durch das verschwitzte Haar. Er transportierte dabei die verschiedensten Geräusche, aber auch welche, die Melody kannte.
Die Echos von Schritten...
Zunächst nahm Melody sie nicht so richtig zur Kenntnis, aber sie hatte sich nicht getäuscht, denn die Geräusche blieben, und sie erreichten sie von vorn.
Da kam jemand...
Noch traute sie sich nicht, den Blick direkt nach vorn zu werfen, weil der Rabe mit den gelben Augen für sie wichtiger war, doch die Schrittgeräusche nahmen an Lautstärke zu. Ein Zeichen, dass jemand immer näher an sie herankam. Jetzt blickte sie hoch!
Ihr Erschrecken war tief und erfasste sie wie ein Schlag.
Schon auf dem Weg zum Haus bewegte sich eine große düstere Gestalt auf sie zu...
***
Obwohl es zwischen ihr und Melody noch eine gewisse Entfernung gab, wusste sie sofort, dass sie der Gestalt nicht entkommen konnte. Auch wenn sie sich schnell bewegt hätte, es wäre ihr nicht gelungen, weil der
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