Die Zarin (German Edition)
Er ist tot.
Mein geliebter Mann, der mächtige Zar aller Russen, ist gestorben – und das gerade zur rechten Zeit.
Für einen Augenblick stand dort in seinem Schlafzimmer in den oberen Räumen des Winterpalastes die Zeit still. Die Flammen der Kerzen in den hohen Leuchtern flackerten unruhig und tauchten den Raum in ein gedämpftes, unstetes Licht. Ihre Lichter tanzten in den hohen Spiegeln an den Wänden: Der sanfte Schein ließ die Schatten in den Ecken wirbeln, und die gewebten Figuren auf den flämischen Gobelins erwachten zum Leben. Draußen vor der Tür konnte ich dieselben Stimmen hören, die dort schon den ganzen Abend und die Nacht hindurch gemurmelt und geflüstert hatten. Sie mischten sich in das Heulen des kalten Februarwindes, der zornig an den fest geschlossenen Fensterläden rüttelte.
Es war alles so wie schon in den letzten Tagen. Es schien unglaublich, daß sich nichts verändert haben sollte. Ich erinnerte mich nun an den Tag, an dem Peter nach der großen Schlacht von Poltawa einen alten Soldaten auszeichnete: Er hatte im Kampf sein Bein verloren. Als ich damals neben Peter stand und nach mitleidigen und anerkennenden Worten für den Mann suchte, wehrte der ab.
»Hier drinnen, Herrin«, hatte er gesagt und sich mit dem Zeigefinger gegen seine Stirn geklopft, »hier drinnen habe ich mein Bein noch. Das ist alles, was zählt.«
Genauso erging es mir nun: In meinem Geist, in meinem Körper und meiner Seele war Peter noch immer bei mir. Aber kein Wunder, daß Ungläubigkeit und Unverständnis uns beherrschten! Denn der größte Wille, der Rußland je aufgezwungen wurde, war vor wenigen Augenblicken erloschen.
Die Ärzte Blumentrost, Paulsen und Horn standen schweigend und betreten um Peters Bett. Insgeheim hatte ich den Eindruck, der Zar hätte leicht für Medizin zum Preis von fünf Kopeken gerettet werden können. Nun starrten sie seinen Leichnam beschwörend an.
Hofften sie auf einen weiteren Atemzug?
Ihr werdet besser von mir bezahlt, wenn er nun wirklich tot ist, ihr Quacksalber, dachte ich. Dabei bewahrte ich sorgsam meinen würdigen Gesichtsausdruck. Ich spürte, daß sowohl Feofan Prokopowitsch als auch Alexander Menschikow mich beobachteten. Prokopowitsch hatte Peters Träume in Worte gefaßt und ihnen damit Ausdruck und Beständigkeit verliehen. Peter und Rußland haben ihm viel zu verdanken. Menschikow dagegen – nun, da lagen die Dinge genau andersherum. Er, der reichste und mächtigste Mann des Russischen Reiches, hatte Peter alles zu verdanken.
Menschikow räusperte sich. Ich sah auf.
Er und Prokopowitsch starrten beide auf Peters Hände. Ich folgte ihrem Blick. Da lag das Blatt Papier, noch fest im Griff der nun erstarrten und so plötzlich kraftlos gewordenen Hände des toten Zaren. Paulsen hatte ihm die Augen geschlossen und ihm die Hände auf der Brust gekreuzt. Das Papier aber hatte er nicht dem Griff der klammen Finger entziehen können. Die Feder war Peter in seinem letzten, tödlichen Schwächeanfall aus der Hand geglitten, und auf dem weichen Laken sah ich Spritzer von schwarzer Tinte.
Als Peter in den Minuten vor seinem Tod mit letzter Kraft nach Tinte, Feder und Papier verlangte, wollte mir vor Furcht das Herz schier stillstehen: Nein, er hatte nicht vergessen. Er wollte mich mitziehen: in die Dunkelheit, in den Tod, in das Vergessen. Kälte zog ein in meinen Körper in diesem Augenblick. Mein Blut gefror, und die Verästelungen meiner Adern glichen den Zweigen der Bäume im Winter der baltischen Wälder: Sie waren schwer von Reif und Frost.
Doch nun der Anblick seiner Hände! Sie waren unseren Augen so hilflos ausgeliefert: diese Hände, die für seinen mächtigen Körper viel zu zart waren. Die Hände, die letztendlich zu früh zu schwach geworden waren für all die Dinge, die er noch vollbringen wollte. Sie so kraftlos zu sehen rührte mich, und in meinem Herzen verschwanden die Angst und der Zorn, die ich in den letzten Monaten empfunden hatte. Ich strengte meine letzte mir verbliebene Liebe an und wollte vergessen, daß er diese Hände vor nur zwei Wochen noch in mein Haar getaucht und meine dichten Locken um seine Finger geschlungen hatte. Er hatte daran gerochen und mich dann angelächelt.
»Meine arme Katharina – wie schön du noch immer bist! Aber wie du wohl ohne deine Haare im Kloster aussehen wirst? Und die Kälte dort! Sie wird auch dich angreifen, obwohl du stark wie ein Roß bist. Jewdokija, die Arme, schreibt mir noch immer und fleht um einen
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