Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo
noch lächerlicher. »In den Tagebüchern spricht Will Henry davon, äh, infiziert worden zu sein von irgendeinem Parasiten, als er ungefähr elf oder zwölf war. Ein Wirbelloser wie ein Bandwurm, nur viel kleiner, der den Leuten irgendwie ein unnatürlich langes Leben verleiht.«
Der Doktor hatte nickend zugehört. Einen Moment lang deutete ich dieses Nicken irrtümlich als Zustimmung, ein Zeichen dafür, dass er von solch einer symbiotischen Kreatur gehört hatte. Und, wenn dieser Teil der fantastischen Lebensgeschichte Will Henrys wahr war, was dann sonst möglicherweise noch? Konnte es sein, dass es eine Disziplin wie Monstrumologie gab, praktiziert im späten 19. Jahrhundert von Männern so wie seinem Vormund, dem brillanten und rätselhaften Pellinore Warthrop? War es möglich, dass ich in meinem Besitz nicht ein Werk der Fiktion, sondern den Bericht über ein wahrhaft außerordentliches Leben hatte, welches mehr als ein Jahrhundert umspannte? Die zentrale Frage, das, was mich mitten in der Nacht wach werden ließ, zitternd und in kaltem Schweiß gebadet, die Vorstellung, die mich verfolgte, während ich versuchte, wieder einzuschlafen … Konnten Monster real sein?
Meine Hoffnung – falls das, was ich empfand, so genannt werden konnte – war von kurzer Dauer. Das Nicken des Doktors sollte kein Wiedererkennen zu verstehen geben; es war seine Art, höflich zu sein.
»Wäre das nicht fabelhaft?«, fragte er rhetorisch. »Aber nein, sein Blutbild war völlig normal. Ein bisschen viel schlechtes Cholesterin. Ansonsten …« Er zuckte mit den Achseln.
»Was ist mit einer CT oder einer MRT?«
»Was soll damit sein?«
»Haben Sie jemals eine bei ihm durchgeführt?«
»Dieser Staat finanziert keine unnötigen Behandlungsweisen in einem Fall wie dem von Mr. Henry. Meine Aufgabe war es, ihm seine letzten Tage so beschwerdefrei wie möglich zu gestalten, und genau das habe ich getan. Dürfte ich Sie etwas fragen? Worauf wollen Sie mit dem Ganzen hinaus?«
»Sie meinen, weshalb es von Bedeutung ist?«
»Ja. Weshalb?«
»Ich bin mir nicht sicher. Ich nehme an, zum Teil ist es das Geheimnisvolle. Wer war dieser Kerl? Wo kam er her und wie ist er in diesem Graben gelandet? Und wieso hat er dieses Tagebuch oder diesen Roman oder was immer es ist geschrieben? Ich denke jedoch, der Hauptgrund hat etwas mit einem Versprechen zu tun, das ich gegeben habe.«
»Will Henry gegeben?«
Ich zögerte. »Ich spreche vom Direktor. Er hat mir die Tagebücher gegeben und mich gebeten, sie zu lesen, um zu sehen, ob es darin möglicherweise Hinweise gibt, die uns helfen könnten, seine Verwandten zu finden. Irgendwo muss es jemanden geben, der ihn kannte, bevor er hierherkam. Jeder hat irgendjemanden.«
Der Doktor lächelte. Er hatte es kapiert. »Und im Moment sind Sie der einzige Jemand, den er hat.«
Ich legte die Aufzeichnungen meiner Interviews mit der Vorleserin und dem Doktor in den ständig umfangreicher werdenden Ordner, den ich über Will Henry führte, und dann legte ich den Ordner in eine Schublade mit noch einem Versprechen an mich selbst, nämlich dass die Sache nicht zur Besessenheit werden würde; ich würde daran arbeiten, so, wie mein Terminkalender es mir erlaubte. Ich hatte einen Abgabetermin für ein Buch, familiäre Verpflichtungen, eigene Sorgen. Die alten Bücher mit ihren rissigen Ledereinbänden und vergilbten Seiten blieben unberührt in einem Stapel neben meinem Schreibtisch. Ich brachte die ersten drei unter dem Titel Der Monstrumologe im folgenden Jahr heraus in der Hoffnung, dass irgendein Leser irgendwo vielleicht etwas Bekanntes darin entdecken mochte.
Es war eine vage Hoffnung. Aus rechtlichen Gründen müssten die Notizbücher als Roman präsentiert werden. Selbst wenn jemandem der Name William James Henry etwas sagte, würdees als Zufall ausgelegt werden, aber etwas in seiner Erzählung löste vielleicht eine Erinnerung aus; möglicherweise hatte er seine Kinder oder Enkelkinder mit der Geschichte der bizarren und grauenerregenden Kreaturen namens Anthropophagi erschauern lassen. Er war offensichtlich ein gebildeter Mann gewesen. Vielleicht hatte er an irgendeinem Punkt in der fernen Vergangenheit sogar etwas veröffentlicht, möglicherweise nicht unter seinem eigenen Namen – falls, heißt das, William James Henry sein Name war . Nachdem er in dem Graben gefunden worden war, hatte die Polizei seine Fingerabdrücke überprüft. Die Person, die von sich behauptete, William James Henry zu
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